Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 887

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klassenlose Gesellschaft soll just der Weltkrieg geboren haben, die krasseste Äußerung der Klassenherrschaft. Das rührende Idyll soll als holde Wunderblume aus der blutigsten Erscheinung der Geschichte, aus einem Kriege von nie dagewesenem Umfang empor gesprossen sein! Also war die Lehre von den Klassengegensätzen, die den Lebensodem der Sozialdemokratie bildete, ein Phantom, eine Täuschung? Oder gilt diese Lehre nur für Friedenszeiten und wird sie zur Lüge, sobald Kanonen donnern?

Aber wie, überlegen wir eine Weile! Hat, seit die Kanonen donnern, etwa die Ausbeutung aufgehört? Viele Unternehmungen sind bereits infolge des Krieges verkracht, die Arbeitslosigkeit, die schon vor dem Kriege verheerend wirkte, nimmt mit jedem Tage zu. Wer sind ihre Opfer anders als die Proletarier? Freilich, auch die Bourgeoisie, auch die Unternehmer haben dabei große Verluste. Aber der nackte Hunger und das Elend sind in bürgerlichen Häusern nicht täglicher Gast am Tische wie in den armseligen Proletarierquartieren. Ja, die Lieferungen für das Heer, für die Marine bilden für viele Kapitalisten eine wahre Goldgrube! Und wie steht es in all den Fabriken und Werkstätten, die noch voll oder teilweise beschäftigt sind? Wird da nicht wie früher, wie immer, die Arbeitskraft der Lohnproletarier ausgebeutet?

Oder hat, seit die Kanonen donnern, das Privateigentum aufgehört? Gibt es nicht mehr die Besitzer von allen Produktionsmitteln, dort Millionen Männer und Weiber, welche nichts als ihre Arbeitskraft besitzen, die sie um ein Stück Brot verkaufen müssen? Ausbeuter und Ausgebeutete, Reichtum und Elend gibt es heute genauso wie seit jeher. Wie könnten sie auch verschwinden, solange der Kapitalismus nicht verschwunden ist!

Und der Kapitalismus ist nicht verschwunden, er herrscht heute noch in Deutschland wie in Frankreich, in England wie in Rußland, in Österreich wie in Belgien. Ja, er feiert gerade jetzt im Weltkrieg seine Triumphe, er läßt es die Menschheit fühlen, daß er herrscht. Deshalb bleibt heute, trotz Kanonendonner, das bekannte Wort des englischen Staatsmannes Disraeli wahr: Es gibt in der heutigen Welt überall zwei Nationen: die der Besitzenden und die der Besitzlosen.[1] Ja, würden all die großen Patrioten, die vom einigen Volk von Brüdern sprechen, vortreten und erklären: Wir

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[1] Siehe Benjamin Disraeli: Sybil. Sozialpolitischer Roman. Übersetzt von Natalie Liebknecht. Mit einem Vorwort [vom 1. Mai 1845], Berlin o. J., wo es S. 34/35 heißt: „Die Dichtigkeit der Bevölkerung erheischt einen härteren Kampf um’s Dasein, und dieser bewirkt eine heftigere Abstoßung der zu nahe aneinander gedrängten Elemente. In großen Städten werden die Menschen durch das Streben nach Gewinn zusammengeführt. Sie sind, was den Erwerb von Vermögen anbelangt, nicht in einem Zustand gesellschaftlichen Zusammenarbeitens, der Kooperation, sondern der Vereinzelung … aber Sie mögen sagen, was sie wollen, unsere Königin regiert über die größte Nation, die es jemals gegeben hat.“ „Welche Nation?“ fragte der jüngere der Fremden, „denn sie regiert über zwei Nationen … Ja, … zwei Nationen, zwischen welchen keine Verbindung, keine Sympathie besteht, die mit den gegenseitigen Gewohnheiten, Gedanken und Gefühlen ebenso unbekannt sind, als wenn sie Bewohner verschiedener Zonen wären oder Bewohner verschiedener Planeten, – verschieden erzogen, verschieden genährt und gelenkt von verschiedenen Sitten, regiert nach verschiedenen Gesetzen.“ Sie sprechen von … ? … „Den Reichen und den Armen.“