Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 822

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II

Der Staatsanwalt in Frankfurt sagte: Meine Rede[1] hätte einige Soldaten im Kriegsfalle zur Meuterei veranlassen können. Und da dies Beispiel Nachahmung finden könnte, so ist eine solche Rede staatsgefährlich. Eine Gesellschaftsordnung, die sich lediglich auf den Militarismus stützt, und die durch zwölf Soldaten ins Wanken geraten könnte, ist naturgemäß durch und durch morsch und muß über kurz oder lang zusammenbrechen. Die sozialdemokratische Partei wird eine Agitation entfachen, die nicht bloß zwölf Soldaten, sondern die überwiegende Mehrheit des deutschen Volkes zum Nachdenken und Handeln aufwecken wird. Die Disziplin beim Militär wird nur noch aufrechterhalten durch den Kadavergehorsam. Soldaten, die auf Befehl ihre Nase und Zunge in den Spucknapf stecken, sind allerdings auch fähig, auf Vater und Mutter zu schießen. Wir werden dafür sorgen, daß das Volk sich die Herrschaft und Unterdrückung sowie Ausbeutung von einer geringen Minderzahl Privilegierter nicht länger gefallen lassen wird. Moralisch sind die herrschenden Klassen, deren Hauptstützen Streikbrecher wie der Zuchthäusler Keiling[2] und ähnliches Gelichter sind bereits vollständig bankrott. Die Vorgänge in Zabern[3] haben den Stupidesten die Augen geöffnet. Eine Gesellschaftsordnung, die sich lediglich auf die Willkürherrschaft des Militärs stützt, mit deren Herrlichkeit ist es vorbei. Wir werden dafür sorgen, daß der Todfeind des deutschen Volkes, der Militarismus, angegriffen wird. Meine Verurteilung in Frankfurt kann uns nicht wankend machen. Im Gegenteil, wir werden jetzt zum Angriff übergehen, wir werden auch dahin wirken, daß das Volk republikanisch wird. (Rufe: Der Zentralvorstand schläft aber noch!)

Genossinnen und Genossen! Jede Parteileitung treibt die Politik, die die Massen verlangen. Wenn die Massen eine Angriffspolitik, eine Politik des Republikanismus verlangen, dann ist die Parteileitung genötigt, eine solche Politik zu treiben. Wir verwerfen alle Kompromisse mit den bürgerlichen Parteien, wir werden, trotz Staatsanwalt und Gerichte, trotz aller Scharfmacherpolitik den Kampf bis aufs Messer führen, bis alle Not und Elend beseitigt sind. Wir wollen selbstverständlich nicht zur physischen Gewalt auffordern, sondern die Köpfe revolutionieren, damit sie in der Stunde der Entscheidung wissen, was sie zu tun haben. Ich habe die Überzeugung, das Proletariat wird im Kampfe zu seiner Befreiung aus politischer Knechtschaft und ökonomischer Ausbeutung trotz aller Verfolgungen und Bestrafungen nicht einen Augenblick nachlas-

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[1] Gemeint sind ihre Reden in Fechenheim und Bockenheim, siehe GW, Bd. 7/2, S. 789 ff. und 792 f.

[2] Keiling war ein aus Berlin stammender, oftmals vorbestrafter Vermittler von Streikbrechern. Er hatte am 8. Februar 1914 in Tetschen (Deˇcˇín, Böhmen) während eines Streiks den Vertrauensmann des Buchdruckerverbandes durch einen Revolverschuß tödlich verletzt. Von einem österreichischen Gericht wurde er zu acht Monaten schwerem Arrest verurteilt.

[3] Unter der Überschrift Ein Telegramm des Kronprinzen veröffentlichte die Sozialdemokratische Partei-Correspondenz (Berlin), 9. Jg., Nr. 2 vom 24. Januar 1914, S. 26: „Da nunmehr feststeht, daß der Kronprinz die durch ein Pariser Blatt verursachte Meldung von einem Telegramme an den Obersten v. Reuter nicht dementieren ließ, soll auch die Version veröffentlicht werden, die uns von eingeweihter Seite mitgeteilt wurde. Danach hat der Kronprinz an den General v. Deimling, nicht an den Obersten v. Reuter, zwei Telegramme gerichtet. Das erste datiert schon vor den Ereignissen vom 28. November und lautet: ‚Immer feste drauf! Friedrich Wilhelm Kronprinz!‘“ Im November 1913 war es in Zabern (Unterelsaß) zu schweren Ausschreitungen des preußischen Militärs gegenüber den Einwohnern gekommen, die gegen die Beschimpfung der Elsässer durch einen Leutnant der Garnison protestiert hatten. Der Regimentskommandeur Oberst von Reuter ließ die Demonstrationen der Bevölkerung mit Waffengewalt auseinanderjagen und Verhaftungen vornehmen. Diese Vorgänge lösten in ganz Deutschland, selbst bei Teilen des Bürgertums, einen Entrüstungssturm gegen die Militärkamarilla aus, und der Deutsche Reichstag mißbilligte nach heftigen Debatten mit 293 gegen 54 Stimmen bei 4 Stimmenthaltungen die Stellung der Regierung, die die Vorgänge zu bagatellisieren versuchte. Oberst von Reuter, gegen den vom 5. bis 8. Januar 1914 vor einem Kriegsgericht in Straßburg verhandelt wurde, wurde von aller Schuld freigesprochen und im Januar 1914 vom deutschen Kaiser demonstrativ mit einem Orden dekoriert. Das zweite Telegramm datierte vom 29. November und lautete: „Bravo! Friedrich Wilhelm, Kronprinz!“