Parteigenossen! Jedes Wort der Urteilsbegründung ist ein öffentliches Eingeständnis unserer Macht. Jedes Wort ist ein Ehrenwort für uns, darum heißt es für mich, wie für euch, zeigen wir uns dieses Ehrentitels würdig. Wollen wir immer eingedenk sein der Worte unseres verstorbenen Führers August Bebel: „Ich bleibe bis zum letzten Atemzuge der Todfeind des bestehenden Staates!“[1] (Jubelnder, nicht enden wollender Beifall.)[2]
Volksstimme (Frankfurt am Main),
Nr. 45 vom 23. Februar 1914.[3]
II
Nach einem Polizeibericht
Rosa Luxemburg wurde stürmisch begrüßt. Sie sprach dann über ihre Verurteilung am Freitage, 20. 2. 14, welche sie als den Ausfluß von Angst der herrschenden Klassen vor der Sozialdemokratie bezeichnete. Mit beißendem Hohn bezeichnete sie das Jahr Gefängnis als eine Lappalie, die Worte des Staatsanwaltes als das Spiegelbild des Klassenstaats, welcher ohne Pardon zum Teufel geschafft werden müßte (frenetischer Beifall). Sie verglich dann ihre Verurteilung mit derjenigen im Löbtauer Falle vor zehn Jahren, welcher unglaublich mehr Unglück über ganze Familien gebracht hätte. Diese wären auch ein Opfer des Klassenstaats gewesen. Das Frankfurter Urteil hätte noch eine allgemeine politische Bedeutung, es käme in ihm die beabsichtigte Reform des Strafgesetzes zur Geltung, welche sich gegen die Sozialdemokratie richte. Die sozialdemokratischen Redakteure wären im vergangenen Jahre insgesamt zu 60 Monaten Gefängnis verurteilt worden, hieraus sehe man deutlich, wie der Wind der Reaktion wehe. Man greife die Sozialdemokraten fortgesetzt an, jetzt wäre es für diese bald an der Zeit, auch zum Angriff überzugehen. Der Staatsanwalt hätte in seinem Plädoyer ausgeführt, sie (Rednerin) hätte in ihrer Bekämpfung des Militarismus den Staat in seinem Lebensnerv treffen wollen.[4] Also nicht die Liebe zum Vaterlande, das Volkswohl und die bürgerliche Freiheit seien nach der Meinung der herrschenden Klassen der Lebensnerv des Staates, sondern das Bajonett, der Militarismus. Dieser
[1] Siehe Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Dresden vom 13. bis 20. September 1903, Berlin 1903, S. 313, wo es heißt: „Ich will der Todfeind dieser bürgerlichen Gesellschaft und dieser Staatsordnung bleiben, um sie in ihren Existenzbedingungen zu untergraben und sie, wenn ich kann, beseitigen.“
[2] In allen Versammlungen wurde die folgende Resolution einstimmige angenommen: „Die heutige Massenversammlung erhebt flammenden Protest gegen das die Genossin Luxemburg zu einem Jahr Gefängnis erkennende Urteil der Frankfurter Strafkammer. Die Versammlung sieht in dem Urteil das Zugeständnis, daß die sozialdemokratische Partei in ihrem Kampfe gegen den Militarismus den heutigen Klassenstaat in seinem Lebensnerv trifft. Sie gelobt, in Zukunft noch viel schärfer wie bisher gemäß den Worten des Staatsanwalts als Todfeind der bestehenden Gesellschaftsordnung bis zum letzten Atemzuge zu kämpfen.“ Siehe Volksstimme (Frankfurt a. M.), Nr. 45 vom 23. Februar 1914.
[3] Der Bericht der Volksstimme (Frankfurt am Main) ist etwas ausführlicher als der Bericht des Vorwärts (Berlin), Nr. 53 vom 23. Februar 1914, der nach einem Privattelegramm des Vorwärts aus Frankfurt a. M. vom 22. Februar unter der Überschrift Volksurteil über Richterurteil erschienen ist. Siehe RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), Nr. 582.
[4] Die entscheidende Passage in der Anklagerede des Staatsanwalts Dr. Hoffmann, auf die sich Rosa Luxemburg wiederholt polemisch bezog, hatte folgenden Wortlaut: „Die Angeklagte überlegt sich genau, was sie sagt. Ihre ganze Persönlichkeit ist nicht geeignet, eine milde Auffassung hervorzurufen. Sie gehört der extremsten Gruppe des radikalsten Flügels der Sozialdemokratie an. Sie ist bekannt durch ihre außerordentlich scharfen Reden. Sie trägt den Beinamen ‚die rote Rosa‘ nicht mit Unrecht. Die Frankfurter Reden zeigen, was sie in ihrem Kopfe denkt, was sie in ihrer Brust fühlt. Sie spielt mit dem Massenstreik, sie animiert zum Mord, sie fordert zur Meuterei auf. Das läßt erkennen, von welcher Todfeindschaft die Angeklagte gegen die bestehende Staatsordnung erfüllt ist. Wenn irgendeine unbekannte Agitatorin die Rede gehalten hätte, so würde sie mit einer geringen Strafe davonkommen. Aber die Angeklagte wird sich gefallen lassen müssen, daß die Strafe ihrer Bedeutung, ihrer Vergangenheit und ihrer außerordentlich starken staatsfeindlichen Gesinnung entspricht. Das Hauptwort bei der Strafe spricht nicht die Gefährlichkeit der Person, sondern die Gefährlichkeit der Tat. Die Tat ist eine ganz außerordentlich gefährliche. Damals waren gerade die Balkanwirren zu Ende. Es lag Explosivstoff in der Luft. Das wußte die Angeklagte. Um so verwerflicher war es, daß sie die Meuterei predigte, wenn es zum Kriege käme. Man lasse nur ein bis zwei Dutzend derart verhetzter entschlossener Leute in einer Kompanie sein, so würde es diesen Leuten ein leichtes werden, ein bis zwei Dutzend andere Leute auf ihre Seite zu bekommen. Das würde vollkommen genügen, um plötzlich eine Meuterei hervorzubringen. Kommt infolge einer Meuterei das Gefecht zum Stehen, dann müssen die allerschlimmsten Folgen kommen. Die Entscheidungsschlacht kann durch eine derartige plötzliche Meuterei verloren gehen. Man denke auch an den niederschmetternden Eindruck, den eine solche Meuterei im eigenen Heere und beim Feinde hervorrufen müßte. Ein einziger Fall einer solchen Meuterei vor dem Feinde kann außerordentlich schwerwiegende Folgen haben, kann unter Umständen sogar katastrophal wirken.
Das alles hat die Angeklagte gewußt. Das sind keine Hirngespinste und keine Phantasieprodukte, die zu scharfmacherischen Zwecken vorgetragen werden. Es sind lebendige Wirklichkeiten, die jeden Tag eintreten können. Die Tatsache, daß derartige Möglichkeiten vorliegen, stempeln die Tat der Angeklagten zu einer ganz außerordentlich gefährlichen. Was die Angeklagte getan hat, ist ein Attentat auf den Lebensnerv unseres Staates.“ Zitiert nach Vorwärts (Berlin), Nr. 54 vom 24. Februar 1914.