Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 761

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Die Taktik der Partei aber müsse so eingerichtet werden, daß sie der steigenden Erbitterung der Massen entspreche. Wenn hinsichtlich der Wucht der Massen manches zu wünschen sei, so liege das nicht zum wenigsten daran, daß die Politik der Partei nicht entschieden genug sei. Es sei in dieser Hinsicht nur an die Dämpfungspolitik erinnert.[1] – Es sei auf den Bergarbeiterstreik verwiesen worden, um darzutun, daß die unorganisierten Massen nicht für eine Aktion zu haben sein würden, denn sie hätten ja nicht einmal den Bergarbeiterstreik mitgemacht, wo es sich doch nur um naheliegende wirtschaftliche Forderungen handelte, die Unorganisierten würden uns also bei einem politischen Streik erst recht im Stich lassen. Diesen Einwendungen sei entgegenzuhalten: Wer die Bergarbeiterbewegung von 1905[2] kenne, der müsse fragen, ob die Bewegung nicht durch eine viel zu verschwommene Taktik der Führer verpfuscht worden sei. Habe doch auch Kautsky zur Bergarbeiterbewegung von 1905 in der „Neuen Zeit“ geschrieben, mit einem Kampf für rein ökonomische Forderungen könne man bei den Bergarbeitern nichts ausrichten, die Verbindung von gewerkschaftlicher und politischer Aktion sei das einzige, was für die Bergarbeiter übrigbleibe.[3] Dies – sagte die Rednerin – führe sie an, weil ihr Kautsky die Lehren des Bergarbeiterstreiks entgegengehalten habe. – Die gegenwärtige Massenstreikdebatte sei mit Freuden zu begrüßen, sie sei ein Ausdruck der Situation und der Stimmung der Massen. Unsere Taktik müsse dahin gehen, das Schiff der Partei auf die Wogen einer kräftigen, scharfen und kühnen Aktion zu lenken. (Lebhafter Beifall.)

Rosa Luxemburg sagte im Schlußwort unter anderem, wir hätten keinen Grund, die Zustände in der Partei als hoffnungslos anzusehen. Mit klarem Bewußtsein müßten wir den Mängeln in der Partei gegenüberstehen und sie beseitigen. Zu der Frage, welche Art des Massenstreiks sie empfehle, sagte die Rednerin, ein Rezept könne sie nicht vorschlagen. Man könne einen Massenstreik nicht nach bestimmten Regeln machen, man könne ihn nicht vorschreiben, aber ihn voraussehen und sich bereithalten, damit die Situation, wenn sie dem Massenstreik günstig ist, ausgenutzt werden könne. Da sich die „Metallarbeiterzeitung“ gestattet habe, Kritik an Beschlüssen der Partei zu üben,[4] so könnten auch wir uns gestatten, den Verbandstagsbeschluß zum Werft-

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[1] Für die Stichwahlen im Januar 1912 hatte der Parteivorstand mit der Fortschrittlichen Volkspartei ein geheimes Abkommen über gegenseitige Wahlhilfe abgeschlossen. Demzufolge sollte die Fortschrittliche Volkspartei in 31 Reichstagswahlkreisen die sozialdemokratischen Kandidaten unterstützen, während der Parteivorstand sich verpflichtete, in 16 Reichstagswahlkreisen „bis zur Stichwahl keine Versammlung abzuhalten, kein Flugblatt zu verbreiten, keine Stimmzettel den Wählern zuzustellen und am Wahltage selbst keine Schlepperdienste zu verrichten“. Siehe Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. IV, Berlin 1967, S. 395. – Der Freisinn existierte zwischen 1893 und 1910 als Freisinnige Volkspartei und als Freisinnige Vereinigung. Die zwei Parteien des Freisinns waren infolge der Differenzen über die Stellung zur Militärvorlage von 1892/1893 aus der Spaltung der Deutschen Freisinnigen Partei hervorgegangen. Die Freisinnige Volkspartei war eine kleinbürgerlich-liberale Partei und die eigentliche Nachfolgerin der Deutschen Fortschrittspartei von 1861. Diese hatte sich in ihrem Gründungsdokument für größte Sparsamkeit für den Militarismus im Frieden, die Aufrechterhaltung der Landwehr, die allgemein einzuführende körperliche Ausbildung der Jugend und die erhöhte Aushebung der waffenfähigen Mannschaft bei zweijähriger Dienstzeit ausgesprochen. Die Freisinnige Volkspartei besaß 1907 28 Reichtagsmandate. Die Freisinnige Vereinigung war eine großbürgerlich-liberale Partei und versuchte den freihändlerisch orientierten Gruppierungen der Bourgeoisie einen maßgeblichen politischen Einfluß zu verschaffen. Das meinte sie durch Unterstützung der Aufrüstungs- und Expansionspolitik, eine liberal-sozialreformerische Innenpolitik und Zurückdrängung des Junkertums erreichen zu können. 1908 spaltete sich eine bürgerlich-demokratische Gruppe als Demokratische Vereinigung unter dem Vorsitz von Rudolf Breitscheid von der Freisinnigen Vereinigung ab. Am 6. März 1910 vereinigten sich die Freisinnige Volkspartei, die Freisinnige Vereinigung und die Süddeutsche Volkspartei zur Fortschrittlichen Volkspartei, einer liberalen Partei mit flexiblerer Strategie und Taktik imperialistischer Politik, die sich von besonders konservativ-militaristischen, reaktionären Kreisen abgrenzte und im Reichstagswahlkampf 1912 42 Mandate erzielte. Ende 1918 entstand aus dem Zusammenschluß mit dem linken Flügel der Nationalliberalen und bürgerlich-demokratischen Gruppen die Deutsche Demokratische Partei.

[2] Vom 7. Januar bis 19. Februar 1905 hatten etwa 215000 Bergarbeiter im Ruhrgebiet für den Achtstundentag, für höhere Löhne und Sicherheitsvorkehrungen gestreikt. Sie waren durch Solidaritätsstreiks der deutschen und internationalen Arbeiterklasse unterstützt worden. An diesem bedeutenden Massenstreik hatten sich gemeinsam die freigewerkschaftlichen, christlichen und Hirsch-Dunckerschen Bergarbeiterverbände, die Polnische Berufsvereinigung sowie unorganisierte Arbeiter beteiligt.

[3] Siehe Karl Kautsky: Die Lehren des Bergarbeiterstreiks. In: Die Neue Zeit (Stuttgart), 23. Jg. 1904/05, Erster Band, S. 780 f.

[4] Siehe Die außerordentliche Generalversammlung. In: Metallarbeiter-Zeitung (Stuttgart), 31. Jg., Nr. 34 vom 28. August 1913, S. 272, und Kopf klar und Pulver trocken! In: ebenda, Nr. 32 vom 9. August 1913, S. 253. „Wenn man die Versammlungen durchstudiert“, heißt es im letztgenannten Artikel, „die sich in der letzten Zeit in Berlin mit der Frage des Massenstreiks beschäftigt haben, dann erkennt man mit nicht geringem Erstaunen, daß keiner der Propheten und auch nicht die bekannte Prophetin unzweideutig zu sagen wußte, was sie denn eigentlich unter dem Massenstreik verstehen, was sie mit ihm zu erreichen trachten. Es verschwindet alles im Nebel der dunkelsten Phrasen. An donnernden Worten hat es ja freilich nicht gefehlt. Wenn die Mauern des preußischen Staates oder der kapitalistischen Wirtschaftsordnung durch Worte umzuwerfen wären, wie einst die Mauern von Jericho vor den Posaunenklängen barsten – schon jetzt wäre in Preußen kein Stein auf dem andern geblieben. Aber damit ist es nichts. Das einzig wirkliche Greifbare ist eine neue Saat des Mißtrauens gegen die Gewerkschaftsbeamten, die wahrlich geplagt genug sind. Auch das hätte man billiger haben können.“