Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 729

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-7-2/seite/729

Gesichtspunkte vor Augen zu führen. Und von dem Standpunkte aus dürfen wir uns niemals Illusionen hingeben hinsichtlich einer gemeinsamen Taktik. Ich will auf die Tatsache hinweisen, daß wir für unsere Auffassung Kronzeugen haben, die allerdings nicht hier im Saale sitzen, aber sie sind von echtem Schrot und Korn. Ich meine die Nationalliberalen im Reichstage. Was hat uns der Deutsche Reichstag gezeigt bei der elenden Katzbalgerei der Nationalliberalen um die Frage, ob die Sozialdemokraten versprochen haben, ein Kaiserhoch im Präsidium auszusprechen oder nicht?[1] Das hat bewiesen, daß die ganze Spekulation auf eine Mehrheit der Linken ein Kartenhaus war, das jämmerlich zusammengebrochen ist. Die linke Mehrheit existiert nicht mehr im Deutschen Reichstage. Es hat sich gezeigt daß die große Mehrheit: Hie Bourgeoisie! Hie Proletariat! sich Bahn gebrochen hat. Die Präsidentenfrage hat gezeigt, daß die linke Mehrheit zu einer Minderheit der verfemten Republikaner zusammenschrumpfte.

Darum wiederhole ich: Fort mit dem kleinlichen Verdacht, als wären wir hier zusammengekommen, um für den Parteivorstand einen Scheiterhaufen zu errichten. Wer hat von uns eine Freude daran, unsere eigenen Führer klein zu sehen? Wir sind aber dazu da, um ein Urteil auszusprechen, wenn Ihr wollt, daß der Vorstand als mächtiger Lenker der Schlachten dasteht. Woher soll er Anhaltspunkte für eine Entscheidung finden, wenn die Masse das Maul hält? (Lebhafte Zustimmung.) Wir sind hier also nicht zusammengekommen, um zu verdonnern oder zu verurteilen, sondern um Klarheit zu schaffen und auszusprechen, was ist. (Stürmischer andauernder Beifall.)

Bremer Bürger-Zeitung,

Nr. 54 vom 4. März 1912.

Nächste Seite »



[1] In der sozialdemokratischen Fraktionssitzung war am 6. Februar 1912 der Beschluß gefaßt worden, in der Frage der Präsidentenwahl Anspruch auf den Posten des I. Vizepräsidenten des Deutschen Reichstages zu erheben und keine anderen als in der Geschäftsordnung begründeten Bedingungen anzunehmen. Siehe Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie 1898 bis 1918. Erster Teil, bearb. von Erich Matthias und Eberhard Pikart, Düsseldorf 1966, S. 257, 259, 261.