Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 684

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diese Mißstimmung ist echt, und sie wird von der Regierung sehr unangenehm empfunden, wie dies nicht nur die rabiaten Fußtritte, mit denen sie sich die Angreifer vom Leibe zu halten versucht, sondern auch das emsige Bearbeiten der Provinzpresse im Sinne der Regierung durch die jungen Leute des Herrn Hammann beweisen. Diese Mißstimmung ist der äußere Ausdruck des Gegensatzes zwischen den wachsenden Kräften des deutschen Imperialismus und seiner sich verringernden Aktionsfreiheit. Er kommt zum Bewußtsein der imperialistischen Kreise nicht als objektiver Gegensatz, nicht als eine in den Dingen liegende Schwierigkeit, sondern als subjektive Schuld unfähiger Personen. Der Drang nach Taten schwellt die Hoffnungen der Imperialisten, wenn sich nur irgendeine neue Persönlichkeit am Horizonte der deutschen auswärtigen Politik zeigt. Als der Meister der leicht hinrollenden Phrase, Herr Bülow, ans Ruder kam, erscholl ihm das: Heil dir im Siegerkranz, aus Hunderten von Kehlen entgegen, und als ihn Herr v. Kiderlen-Wächter ablöste, von dem man außer seinen Duellaffären und Wirtschafterinnengeschichten nur die legendären Bismarckstiefel und die gelbe Weste kannte, rauschte wiederum der ganze bürgerliche Blätterwald. Aber wie die Jakuten ihre Götter, die sie zuvor mit Honig beschmiert hatten, um sie sich günstig zu stimmen, dann mit der Axt bearbeiten, wenn die ersehnte Hilfe ausbleibt, so wird jetzt der arme Schwabe im Auswärtigen Amte von seinen früheren Lobpreisern ganz schmählich mißhandelt. Ja, die besonders Rabiaten vergreifen sich in ihrer Wut der Enttäuschung sogar an dem „allerhöchsten Herrn“, dessen Gottesgnadentum sie sonst dem gemeinen Volke nicht hoch genug preisen können.

Die gewöhnliche Erklärung der jetzigen Lage der auswärtigen deutschen Politik beginnt mit dem Hinweis darauf, daß die deutsche Kolonialpolitik zu spät begonnen habe. Dem ist entgegenzuhalten, daß der neuzeitliche koloniale Kurs Frankreichs auch nicht viel früher begann. Mit Ausnahme Algiers wies die französische Kolonialpolitik des neunzehnten Jahrhunderts vor Sedan[1] nur armselige Anläufe auf, wie die mißlungene Probe der Besetzung von Madagaskar im Jahre 1862 und die Anfänge der Kolonialherrschaft in Tonkin im Jahre 1859. In Tunis beginnt Frankreich Fuß zu fassen erst im Jahre 1881, in Französisch-Kongo im Jahre 1880, in Anam im Jahre 1883, Madagaskar kommt unter die französische Schutzherrschaft erst im Jahre 1885 und wurde zur französischen Kolonie sogar endgültig erst im Jahre 1896. Frankreich hatte also keinen großen Vorsprung vor Deutschland. Und trotzdem hat es jetzt ein Kolonialreich von 6841479 Quadratkilometern Flächeninhalt mit 40 Mill. Einwohnern, während die deutsche koloniale Herrlichkeit nur 2658449 Quadratkilometer mit 14 Mill. Einwohnern beträgt. Die Gründe der kolonialen Zurückgebliebenheit Deutschlands sind wo anders zu suchen. Politisch kommt die Tatsache in Betracht, daß Deutschland als Sieger im Deutsch-Französischen Kriege [1870/1871] sich jahrzehntelang von Gefahren umgeben sah. Der Deutsch-Französische Krieg bedeutete

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[1] Die Schlacht bei Sedan dauerte vom 1. bis 2. September 1870. Die Zahl der Opfer betrug insgesamt über 6000 Tote und fast 20000 Verwundete. Die französischen Truppen wurden von der preußisch-deutschen Armee entscheidend geschlagen. Napoleon III. und rd. 83000 Mann seiner Armee begaben sich in Gefangenschaft. Danach wurde der Krieg deutscherseits zu einem Eroberungskrieg, in dem es um die Annexion Elsaß-Lothringens mit seinen reichen Erzvorkommen ging.