Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 676

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Nachdem noch die Kolonialpolitik gestreift worden war, ging die Referentin auf das Haupterfordernis zur Eroberung des Weltmarktes ein: Die soziale Besserstellung der deutschen Arbeiterklasse. Durch die Reichsversicherungsordnung[1], die ohne jegliche Debatte seitens der vereinigten reaktionären Koalition kapitelweise durchgepeitscht wurde, solle die Arbeiterschaft aufs neue brutal rechtlos gemacht werden. Auch das übrige Gebiet der sozialen Gesetzgebung mit seinen tausendfachen Schikanen und seinen raffiniert funktionierenden Rentenquetschen fand die trefflichste Schilderung, die von Zustimmungsrufen unterbrochen wurde. Der fortdauernde Kampf um das Koalitionsrecht, der durch systematische Polizeibrutalitäten erschwert werde, die politischen Kämpfe um ein freieres Wahlrecht in Preußen müßten für jeden eine Mahnung sein, bei den kommenden Wahlen seine Pflicht im Sinne der Sozialdemokratie zu tun.

Auf die sogenannten Liberalen, die jahrelang im Hottentottenblock[2] die volksfeindliche Politik mitgemacht hätten, sei kein Verlaß, um die Junkerherrschaft zu brechen. Nur aus eigener Kraft könne die Sozialdemokratie etwas erreichen. Wir treten nicht in den Wahlkampf, um ein paar Mandätchen zu erhaschen, wie die Herren Arendt und Kompanie, – die sich dann nach glücklich verlaufener Wahl über die dummen Wähler noch lustig machen – sondern um Heerschau zu halten. Wir protzen nicht mit großen Zahlen wie das Zentrum, sondern wir legen Wert auf die Gesinnung der Wähler, wir brauchen solche Wähler, die durch Abgabe des sozialdemokratischen Stimmzettels nicht nur einer momentanen Verbitterung gegen die Politik der augenblicklich herrschenden Mehrheit zum Ausdruck bringen, sondern solche, die der felsenfesten Überzeugung sind, daß notwendig sei die Zerschmetterung des kapitalistischen Systems. Die kommende Reichstagswahl solle eine Generalabrechnung sein für die Wunden, die der große Kampf im Mansfelder Land geschlagen habe. Es wehe jetzt ein scharfer Wind, aber je schärfer die Welle, desto häufiger wehe die rote Fahne auf dem Schiff. Mit den von Bebel auf dem Dresdener Parteitag ausgesprochenen Worten: Ich bin und bleibe der Todfeind der bürgerlichen Gesellschaft![3] schloß die Genossin ihr zweistündiges, eindrucksvolles Referat.

Volksblatt (Halle a. S.)

Nr. 126 vom 1. Juni 1911.

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[1] Am 30. Mai 1911 wurde im Deutschen Reichstag die Vorlage zur Reichsversicherungsordnung angenommen, ohne daß die von der Sozialdemokratie gestellten Forderungen nach höheren sozialen Leistungen und deren Ausdehnung auch auf Landarbeiter sowie nach einer Herabsetzung des Rentenalters berücksichtigt wurden. Gegen den weiteren Abbau der demokratischen und sozialen Rechte hatte es wiederholt Protestversammlungen gegeben.

[2] Nach den Reichstagswahlen von 1907 schlossen sich die Konservativen, die Nationalliberalen und die Linksliberalen zum Bülowblock („Hottentottenblock“) zusammen. Gestützt auf diesen Block war es Reichskanzler Bernhard von Bülow möglich, im Reichstag eine Reihe reaktionärer Gesetze und Maßnahmen durchzusetzen. Dieser Block zerbrach am 10. Juli 1909, als der Reichstag die Erbschaftssteuer ablehnte.

[3] Siehe Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Dresden vom 13. bis 20. September 1903, Berlin 1903, S. 313, wo es heißt: „Ich will der Todfeind dieser bürgerlichen Gesellschaft und dieser Staatsordnung bleiben, um sie in ihren Existenzbedingungen zu untergraben und sie, wenn ich kann, beseitigen.“