Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 653

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gesetzten Flotten- und Militärrüstungen noch weiter durchführen und die Aushungerungspolitik gegen das Volk weitertreiben zu können. Scharf geißelte sodann Rednerin die indirekte Steuergesetzgebung, die fort und fort von allen bürgerlichen Parteien gutgeheißen und mitgemacht wurde. Welche furchtbare Wirkung diese von den bürgerlichen Parteien andauernd getriebene Politik auf die breiten, geknechteten Volksmassen ausübt, brauche ich Ihnen, die Sie in ihrer Mehrheit arme, zu täglicher Fron verurteilte Textilarbeiter und Arbeiterinnen sind, nicht erst auseinanderzusetzen. Angesichts dieser Vorgänge müssen wir uns fragen, sind wir auf dem richtigen Wege?

In wenigen Tagen wird der Parteitag der Sozialdemokratie zu seiner alljährlichen Tagung zusammentreten.[1] Wenn unsre bürgerlichen Parteien sich schon jetzt die Hände reiben in Erwartung des gegenseitigen „Auffressens“, so werde man sich, wie schon manches Mal, auch diesmal täuschen, und man darf den Gegnern diese vermeintliche Freude wohl gönnen. Befinden sie sich doch dabei in der komischen Rolle, indem es sich bei unsern Auseinandersetzungen doch nur letzten Endes darum handelt, ob der Fisch (herrschende Klasse) gesotten oder gebraten werden soll. (Stürmischer lang anhaltender Beifall.) Wir brauchen uns nicht zu fürchten vor der Öffentlichkeit, indem bei uns die Politik nicht von einigen Drahtziehern hinter den Kulissen, wie es bei den Bürgerlichen der Fall ist, sondern mit aller Freiheit beschlossen und durchgeführt wird. Wenn der Budgetstreit auf dem Parteitag eine große Rolle spielen wird, so deshalb, weil es stets unser Stolz war, daß die gefaßten Beschlüsse auch gehalten und durchgeführt wurden.

Wenn die badischen Genossen trotz der [Parteitags]beschlüsse von Frankfurt [1894], Lübeck [1901] und Nürnberg [1908] sowie der Internationalen [Kongresse] von Paris [1900] und Amsterdam [1904], für das Budget stimmten, so darf man sich wohl fragen, worin die „besonderen“ Verhältnisse in Baden bestehen. Wenn gesagt wird, daß das Zentrum durch die Budgetzustimmung ausgeschaltet und dadurch unmöglich gemacht werden sollte, so ist die Wirkung dieses Experiments mehr als fraglich. Nicht durch Kunst- und Schachzüge in den Parlamenten, sondern einzig und allein durch die Aufklärung der Massen kann die Axt an die Wurzel dieses Übels gelegt werden. Ob uns diese Aufklärungsarbeit, die an sich gewiß sehr schwierig ist, dadurch erleichtert wird, wenn man das Zentrum künstlich ausschaltet und dadurch in die Oppositionsstellung drängt, um selbst Regierungspartei zu werden, scheint mehr als fraglich. Wenn das Zentrum jetzt wieder trotz Zolltarif[2] und Finanzreform[3] landauf

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[1] Gemeint ist der Magdeburger Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, der für den 18. bis 24. September 1910 einberufen worden war. Zur badischen Budgetbewilligung war als Referent August Bebel vorgesehen. Zu Rosa Luxemburg siehe Die badische Budgetbewilligung und Rede zur Budgetabstimmung. In: GW, Bd. 2, S. 427 ff. und 452 ff.

[2] Zollgesetz und Zolltarif mit einer enormen Erhöhung der Agrar- und einiger Industriezölle waren am 14. Dezember 1902, der denkwürdigen Adventsnacht, im Deutschen Reichstag mit 202 gegen 100 Stimmen beschlossen worden und ab 1. März 1906 in Kraft getreten. Danach sollten die Großhandelspreise 1906 bis 1910 im Vergleich zu 1901 bis 1905 für Roggen um 21, Weizen 19, Hafer 18, Kartoffeln zwei, Ochsen 13, Schweine 14 und für Butter um 8 Prozent steigen. Bereits im Februar/März 1901 hatte es gegen die drohende Verschlechterung der Lebenslage für die Mehrheit der Bevölkerung eine machtvolle sozialdemokratische Protestbewegung gegeben, nachdem erste Einzelheiten des Entwurfs eines Zolltarifgesetzes bekannt geworden waren. Am 5. Dezember 1901 hatte die sozialdemokratische Fraktion dem Deutschen Reichstag eine Petition gegen die geplante Zollerhöhung mit rd. dreieinhalb Mill. Unterschriften übergeben. Paul Singer hatte am 11. Dezember 1901 die ablehnende Haltung der deutschen Sozialdemokratie gegen die Vorlage des Bundesrates begründet und die mächtigsten Großagrarier als Urheber der Vorlage entlarvt. Die sozialdemokratische Fraktion hatte dann vom 16. Oktober bis 14. Dezember 1902 noch einmal mit allen parlamentarischen Mitteln gegen die Gesetzesvorlage gekämpft. In den 39 Sitzungen der zweiten und dritten Lesung ergriffen 30 sozialdemokratische Abgeordnete 250 Mal das Wort. In der 2. Lesung sprach August Bebel allein 24 Mal.

[3] Am 10. Juli 1909 war im Deutschen Reichstag eine Reichsfinanzreform gegen die Stimmen der Sozialdemokraten, der Nationalliberalen und der Freisinnigen Volkspartei angenommen worden. Da vier Fünftel der neuen Steuern indirekte Steuern waren, wurden vor allem den Volksmassen zusätzliche Lasten aufgebürdet.