Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 605

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im Stich gelassen haben? Müssen wir uns vielleicht schwach und hoffnungslos fühlen, weil wir allein gegen eine Welt von Feinden zu kämpfen haben? Dazu liegt kein Grund vor. Unsere Macht ist nicht bloß unsere Zahl, sondern auch unsere Bedeutung für das Bestehen der heutigen Gesellschaft. Jene Herren, die sich so sehr sicher im Sattel fühlen in dem Glauben, durch einfaches Fuchteln mit dem Polizeisäbel das Proletariat von dem Kampf abbringen zu können, vergessen, daß wir auch ein Schwert in der Scheide haben, das wir früher oder später ziehen werden. Sie haben vergessen, daß den Arbeitern sehr wohl einfallen kann, nichts anderes zu tun, als ruhig die Arme zu kreuzen und die Arbeit niederzulegen. Wenn es einmal in Preußen-Deutschland dazu kommt, daß die Arbeiter von diesem einfachen Mittel, von ihrer wirtschaftlichen Macht, Gebrauch machen, ich glaube, es wird sich sehr bald herausstellen, daß Staat und Gesellschaft sehr wohl auskommen können ohne Junker, ohne Zentrumsleute, ohne nationalliberale Scharfmacher und Fabrikherren, vielleicht auch noch ohne Waffen, Beamte und Schutzleute (Gr[oße] Heiterk[eit].), aber daß sie nicht 24 Stunden ertragen können, wenn die Bergarbeiter streiken, wenn die Hafenarbeiter die Arbeit einstellen oder die Hüttenarbeiter die Arme verschränken.

Aus der Geschichte muß man auch hier lernen. Und wir und die Machthaber können an Belgien und seiner Wahlrechtsbewegung lernen. Dort war das Proletariat durch Klerus und Schnapsflasche aufs tiefste herabgewürdigt. Und selbst dieser niedrigsten Schichten bemächtigte sich tiefster Zorn und der eiserne Wille nach Besserung ihrer Lage. Die belgischen Streiks in den achtziger Jahren waren die Vorboten für größere Klassenkämpfe. Der Beginn der neunziger Jahre sah in rascher Folge die ersten politischen Massenstreiks zur Erringung eines freiheitlichen Wahlrechts. Und diese Streiks währten solange, bis das Wahlrecht erkämpft war. Opfer gab es in Fülle. Die belgische Armee, die für äußere Kriege nicht verwendet werden darf, schlug dem inneren Feind blutige Schlachten. Gefängnis, Elend und Verfolgungen waren auch hier die üblichen Begleiterscheinungen. Es hat alles nichts geholfen. Das Proletariat ruhte nicht eher, bis die klerikale Regierung zähneknirschend beigab. Auf Grund des allgemeinen Wahlrechts haben es die belgischen Arbeiter fertiggebracht, sich im Oktober 1894 mit einem Schlage 28 Mandate und ein Fünftel sämtlicher abgegebenen Stimmen zu erobern. (Bravo!)[1]

Und wie war es in dem Riesenreiche Rußland? Es galt als der einzige Staat, an dem die Stürme der Weltgeschichte wirkungslos vorübergingen, in dem die 136 Millionen Menschen den tiefsten politischen Schlaf schliefen. Und doch erhob sich am 22. Januar 1905 das Proletariat von Petersburg und inszenierte einen Massenausstand, der bald zu einem riesigen Streik über große Teile des Reiches wurde.[2] Diese politischen Streiks

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[1] Am 12. April 1893 hatte die belgische Kammer den Antrag zur Einführung des allgemeinen Wahlrechts und alle anderen Anträge für eine Wahlreform abgelehnt. Der Generalrat der Belgischen Arbeiterpartei rief daraufhin am 13. April zum sofortigen Ausstand auf. Diesem Aufruf folgten etwa 250000 Arbeiter. Durch diesen Massenstreik vom 13. bis 18. April 1893, bei dem es zu Straßendemonstrationen und Zusammenstößen mit der Polizei kam, sah sich die Kammer gezwungen, den Forderungen zu entsprechen. Sie beschloß am 18. April das allgemeine Wahlrecht mit Pluralvotum, wonach eine Person unter bestimmten Voraussetzungen (Steueraufkommen, Schulbildung) mehrere Stimmen abgeben konnte. Am 14. April 1902 begann in Belgien erneut ein Massenstreik, an dem sich über 300000 Arbeiter beteiligten. Er wurde vom Generalrat der Belgischen Arbeiterpartei jedoch am 20. April 1902 abgebrochen, obwohl die Forderungen nach Änderung des Wahlrechts und der damit verbundenen Verfassungsänderung am 18. April von der belgischen Kammer abgelehnt worden waren.

[2] Am (9.) 22. Januar 1905 waren in St. Petersburg 140000 Arbeiter zum Winterpalais mit einer Bittschrift gezogen, in der sie den Zaren um die Verbesserung ihrer Lebenslage ersuchen wollten. Die Demonstranten, unter denen sich auch Frauen und Kinder befanden, wurden auf Befehl des Zaren mit Gewehrsalven attackiert, über 1000 Menschen wurden getötet und etwa 5000 verwundet. Dieses Blutvergießen löste eine Welle von Proteststreiks und Bauernunruhen in ganz Rußland aus und war der Beginn der Revolution in Rußland 1905/06.