Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 604

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-7-2/seite/604

schreien, den Bruderschmatz gegeben, um mit ihnen gemeinsam die Sozialdemokratie niederzureiten, demselben Freisinn verdanken wir die Hottentottenwahlen.[1] Der deutsche Freisinn hat unter Bülow gezeigt, daß er jederzeit bereit ist, seinen liberalen Nacken als Fußschemel für den ostelbischen Kürassierstiefel abzugeben. Dem Liberalismus ist auch die holde Dreieinigkeit: der ostelbische Kürassierstiefel, der katholische Weihwedel und der preußische Polizeisäbel (Große Heiterkeit.) zu danken. Niemand hat mehr gearbeitet, jahrzehntelang zur Verstärkung der Reaktion, mit der wir heutzutage einen schweren Kampf um das Wahlrecht führen müssen, als der Liberalismus. Wenn wir nach dem äußeren Schein urteilen wollten, sähen wir zwei getrennte Lager: Zentrum und Junkertum als Wahlrechtsgegner und als Wahlrechtsfreunde Sozialdemokraten und bürgerliche Liberale. Aber Parteigenossen, es ist nichts als äußerer Schein. Denn wenn man tiefer in die Zusammenhänge und Klassenparteien blickt und ihren historischen Werdegang betrachtet, so findet man: Es gibt wohl zwei Lager, aber die sind so gestaltet: Hie Sozialdemokratie ganz allein und dort sämtliche bürgerlichen Parteien und Klassen zusammenstehend. Wenn es je eine Zeit und ein Land gegeben hat, wo das Wort von der einen reaktionären Masse[2] Fleisch und Blut geworden ist, so ist es heute und in Preußen-Deutschland. Wir wollen gewiß die bürgerlichen Wahlrechtsfreunde nicht zurückstoßen. Sie mögen kommen. Wir empfangen sie mit offenen Armen. Aber wo sind sie denn? Ist es vielleicht der Freisinn, der eben erst in den Hottentottenwahlen mit den schlimmsten Reaktionären sich verband, um die Sozialdemokratie niederzureiten? Oder der Kommunalfreisinn von Berlin, der eben erst einen Antrag, gegen die Gewalt des Herrn Jagow und seiner Untergebenen zu protestieren, ablehnte? Oder ist es der Freisinn in Breslau, der in der Person des Bürgermeisters Dr. Bender seine Loblieder auf den preußischen Polizeisäbel sang und den Arbeitern die öffentlichen Plätze zu Versammlungen und Demonstrationen verweigerte? Oder ist es der Dortmunder Liberalismus, dem am Sonntag schon ein „knallrotes Lied“ auf die Nerven fiel? (Große Heiterkeit.)

Geben wir uns keiner Täuschung hin, es sind nicht nur Mächte vorhanden, Preußen das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht vorzuenthalten, sondern auch solche im Fluß, die das verhaßte Reichstagswahlrecht beseitigen wollen. Rednerin verweist auf Ausführungen Mirbachs im preußischen Abgeordnetenhause[3] und v. Oldenburgs im Reichstage.[4] Die Sozialdemokratie tut gut sich zu sagen, daß sie in diesen Kämpfen allein auf sich selbst angewiesen sein wird. Leisten Sie sich nächstens den Witz, die Demonstrationen allein zu machen – ohne den Freisinn – und sie werden um kein Haar weniger imposant sein. (Lebhaftes Sehr richtig!) Sollen wir uns vielleicht darüber beklagen, daß Freisinn und Nationalliberale uns so schnöde

Nächste Seite »



[1] Die Reichstagswahlen, die sog. Hottentottenwahlen, fanden am 25. Januar und am 5. Februar 1907 (Stichwahlen) statt. Sie waren unter Leitung des Reichskanzlers Bernhard von Bülow unter besonders heftigen Attacken gegen die Sozialdemokratie, andere oppositionelle Kräfte und mit chauvinistischen Hetzparolen gegen die in Südwestafrika unterdrückten Völker vor sich gegangen. Die deutsche Sozialdemokratie erzielte dennoch die größte Stimmenzahl. Doch obwohl sie 248258 Stimmen mehr als bei den Reichstagswahlen 1903 errang, erhielt sie auf Grund der veralteten Wahlkreiseinteilung sowie der Stichwahlbündnisse der bürgerlichen Parteien nur 43 Mandate gegenüber 81 im Jahre 1903.

[2] Das Lassallesche Schlagwort von der „einen reaktionären Masse“ ist dem Wortlaut nach in den Auseinandersetzungen des ADAV mit der Deutschen Fortschrittspartei seit dem Sommer 1865 entstanden und wohl von Johann Baptist Schweitzer geprägt worden. Siehe Engels an Marx, Oktober 1868. In: MEW, Bd. 32, S. 187. Einen dem Wortlaut des Schlagworts sehr nahekommenden Beleg enthält Lassalles Rede vor Berliner Arbeitern vom 22. November 1862, die der Social-Demokrat (Berlin) am 31. August 1865 unter der Überschrift Lassalle über die gegen ihn und die Social-Democratie erhobenen Vorwürfe veröffentlichte. Dort heißt es: „Vor mir also verschwinden die Unterschiede und Gegensätze, welche sonst die reaktionäre Partei und die Fortschrittspartei trennen. Vor mir sinken sie trotz dieser inneren Unterschiede zu Einer gemeinsamen reaktionären Partei zusammen.“ Nach MEGA, Erste Abt. Werke/ Artikel/Entwürfe, Mai 1875 bis Mai 1883, Apparat, Bd. 25, Berlin 1985, S. 548 f.

[3] Am 28. März 1895 hatte sich Graf von Mirbach in der Debatte zum Etat im preußischen Herrenhaus für eine Änderung des Reichstagswahlrechtes ausgesprochen.

[4] Der Konservative Elard von Oldenburg-Januschau hatte am 29. Januar 1910 in der Reichstagsdebatte über den Militäretat gesagt: „Der König von Preußen und der Deutsche Kaiser muß jeden Moment imstande sein, zu einem Leutnant zu sagen: Nehmen Sie zehn Mann und schließen Sie den Reichstag!“ Stenographische Berichte des Reichstages, XII. Legislaturperiode, 2. Session, Bd. 259, Berlin 1910, S. 898. Gegen diese Provokation kam es in zahlreichen Städten Deutschlands zu Protestversammlungen.