Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 1109

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rechts,[1] Abstimmung für den Heeres Wehrbeitrag (völliges Dessarroi just 1913 vor dem Ausbruch!),[2] die Scheu vor dem Massenstreik.[3]

2.

Rolle u. Entw[icklung] der Gewerksch[aften] seit 20 Jahren. Aus einem Zweig der soz[ialistischen] Bew[egung] Verselbständigung, Bürokratie über der Masse. Gew[erkschaftliche]Taktik: Ausweichen allen großen Kämpfen. Reine Defensive. Rückkehr zur Taktik der engl[ischen] Tradeunions in den 60er u. 70er Jahren aber – in der Periode der Kartelle, Banken, Imperialismus, Militarismus, Teuerung, indir[ekter] Steuern, Schutzzoll! Die deutschen Gew[erkschaften] haben eine rückläufige Entw[icklung] durchgem[acht] u. sind im Zeichen der imper[ialistischen] Orgie bei der Taktik der engl[ischen] Tr[adeunions] aus den Anfängen der Großind[ustrie] u. der Blütezeit des Liberalismus angelangt. (Symptome: Werftarbeiterstreik[4], Ruhrrevierstr[eik[5]], Maifeier erdrosselt, Äußerungen Bömelburgs[6]).

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[1] Siehe dazu Rosa Luxemburg: Der Wahlrechtskampf und seine Lehren. Referat am 6. April 1910 auf einer Volksversammlung in Bremen. In: GW, Bd. 7/2, S. 584 ff.; dies.: Die Lehren des Wahlrechtskampfes. Rede am 12. April 1910 auf einer Volksversammlung im Gewerkschaftshaus in Dortmund. In: ebenda, S. 599 ff.

[2] Ende März 1913 war im Deutschen Reichstag eine Militär- und Deckungsvorlage eingebracht worden, die die größte Heeresverstärkung seit Bestehen des Deutschen Reiches vorsah. Ein Teil der zusätzlichen finanziellen Mittel sollte durch einen außerordentlichen Wehrbeitrag und durch Besteuerung aller Vermögen über 10000 M aufgebracht, der übrige Teil auf die Schultern der Bevölkerung abgewälzt werden. Am 30. Juni wurde die Militär- und Deckungsvorlage im Deutschen Reichstag angenommen. Die sozialdemokratische Fraktion lehnte die Militärvorlage ab, stimmte aber einer einmaligen Vermögensabgabe (dem sog. Wehrbeitrag) und einer Vermögenszuwachssteuer zur Finanzierung der Heeresvorlage zu. Im Namen der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion gab Hugo Haase vor der Abstimmung über die einzelnen Gesetze der Deckungsvorlage eine Erklärung ab, in der dem außerordentlichen Wehrbeitrag und der Besitzsteuer zugestimmt und dies als Anfang der von der Sozialdemokratie geforderten Steuerpolitik bezeichnet wurde. Der Abstimmung waren scharfe Auseinandersetzungen in der Fraktion vorausgegangen, die damit endeten, daß unter Mißbrauch der Fraktionsdisziplin der Widerstand von 37 Abgeordneten unterdrückt wurde. Diese Zustimmung zu den Gesetzen bedeutete das Aufgeben des Grundsatzes „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen“. Siehe dazu Die Reichstagsfraktion und die Militärvorlage. In: GW, Bd. 3, S. 267 ff.

[3] Die Resolution des Parteivorstandes hatte folgenden Wortlaut: „Nach dem vom Mannheimer Parteitag (1906) bestätigten Beschluß des Jenaer Parteitages (1905) ist die umfassendste Anwendung der Massenarbeitseinstellung gegebenenfalls als eines der wirksamsten Mittel zu betrachten, nicht nur, um Angriffe auf bestehende Volksrechte abzuwehren, sondern um Volksrechte neu zu erobern.

Die Eroberung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechts zu allen Vertretungskörpern ist eine der Vorbedingungen für den Befreiungskampf des Proletariats. Das Dreiklassenwahlrecht entrechtet die Besitzlosen nicht nur, sondern hemmt sie in allen ihren Bestrebungen auf Verbesserung ihrer Lebenshaltung, es macht die schlimmsten Feinde gewerkschaftlicher Betätigung und sozialen Fortschritts, die Junkerkaste, zum Beherrscher der Gesetzgebung.

Darum fordert der Parteitag die entrechteten Massen auf, im Kampfe gegen das Dreiklassenwahlrecht alle Kräfte anzuspannen in dem Bewußtsein, daß dieser Kampf ohne große Opfer nicht siegreich durchgeführt werden kann.

Indem der Parteitag den Massenstreik als unfehlbares und jederzeit anwendbares Mittel zur Beseitigung sozialer Schäden im Sinne der anarchistischen Auffassung verwirft, spricht er zugleich die Überzeugung aus, daß die Arbeiterschaft für die Erringung der politischen Gleichberechtigung ihre ganze Kraft einsetzen muß. Der politische Massenstreik kann nur bei vollkommener Einigkeit aller Organe der Arbeiterbewegung von klassenbewußten, für die letzten Ziele des Sozialismus begeisterten und zu jedem Opfer bereiten Massen geführt werden. Der Parteitag macht es deshalb den Parteigenossen zur Pflicht, unermüdlich für den Ausbau der politischen und gewerkschaftlichen Organisationen zu wirken.“ Siehe Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Jena vom 14. bis 20. September 1913, Berlin 1913, S. 557 f. Diese Resolution wurde gegen zwei Stimmen angenommen. Eine Anzahl Delegierter stimmte weder für noch gegen die Resolution, da über den Antrag von Sozialdemokraten des Wahlkreises Niederbarnim, den sie für den wichtigeren hielt, noch nicht abgestimmt worden war. Dieser Antrag wurde aber nach der Annahme der Parteivorstandsresolution für erledigt erklärt. Siehe ebenda, S. 338. – Siehe auch Rosa Luxemburg: Über den politischen Massenstreik. Diskussionsrede in der erweiterten Parteivorstandssitzung mit Gewerkschaftern Anfang August 1913. In: GW, Bd. 7/2, S. 756; dies.: Über den politischen Massenstreik. Vortrag auf einer internen Sitzung vor Delegierten und ausländischen Gästen des Jenaer Parteitages der deutschen Sozialdemokratie am 19. und 20. September 1913. In: GW, Bd. 7/2, S. 784 ff.; dies.: Kommt der Massenstreik als Verteidigungsmittel des Proletariats in einer veränderten politischen Konstellation in Betracht? Vortrag am 14. Januar 1914 in der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion. In: ebenda, S. 806 ff.; siehe auch dies.: Die Massenstreikresolution des Parteivorstandes. In: GW, Bd. 3, S. 322 ff.

[4] Vom 14. Juli bis Mitte August 1913 fand ein Werftarbeiterstreik statt. Nach wochenlangen ergebnislosen Verhandlungen mit den Unternehmern über die von den Arbeitern geforderte Herabsetzung der Arbeitszeit, die Erhöhung der Löhne, die Gewährung eines Urlaubs bei Fortzahlung des Lohnes u. a. gab die provokatorische Entlassung mehrerer Vertrauensleute der Hamburger Schiffbauer den letzten Anlaß zum Ausbruch des Streiks. Der Ausstand begann in Hamburg und griff auf Bremen, Flensburg, Kiel, Stettin und Vegesack über. Ende Juli streikten rd. 35000 Arbeiter. Die Gewerkschaftsführer des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes erklärten den Ausstand zum „wilden Streik“ und zahlten keine Unterstützung. Trotz des Protestes von 10000 Streikenden in vielen Versammlungen in Hamburg am 14. August 1913 gegen das Abwürgen des Streiks durch die Gewerkschaftsführer wurden die Arbeiter gezwungen, die Arbeit bedingungslos wieder aufzunehmen.

[5] Vom 7. Januar bis 19. Februar 1905 hatten etwa 215000 Bergarbeiter im Ruhrgebiet für den Achtstundentag, für höhere Löhne und Sicherheitsvorkehrungen gestreikt. Sie waren durch Solidaritätsstreiks der deutschen und internationalen Arbeiterklasse unterstützt worden. An diesem bedeutenden Massenstreik hatten sich gemeinsam die freigewerkschaftlichen, christlichen und Hirsch-Dunckerschen Bergarbeiterverbände, die Polnische Berufsvereinigung sowie unorganisierte Arbeiter beteiligt.

[6] Gemeint ist wohl das Referat Theodor Bömelburgs über den politischen Massenstreik auf dem Fünften Kongreß der Gewerkschaften Deutschlands Ende Mai 1905 in Köln, in dem es u. a. heißt: „Nach alledem wird man sich sagen müssen, man kann den politischen Massenstreik wohl diskutieren, aber man muß es sich sehr ernst überlegen, ob man ihn anwendet. In der deutschen Gewerkschaftsbewegung haben wir dafür zu sorgen, daß die Diskussion verschwindet und daß man die Lösung der Zukunft dem gegebenen Augenblick überläßt. (Sehr richtig!) Wir alle wissen, welche Mühe es gekostet hat, daß die Gewerkschaften einen solchen Stand erreicht haben. Das ist nicht die Arbeit eines Jahres, nein, darin steckt die Arbeit von drei, vier Jahrzehnten. Ungeheure Opfer hat es gekostet, um den augenblicklichen Stand der Organisation zu erreichen, und ungeheure Opfer wird es noch kosten, um die Organisation auf eine noch höhere Stufe der Macht zu heben. Um aber unsere Organisationen auszubauen, dazu bedürfen wir in der Arbeiterbewegung Ruhe.“ Siehe Archivalische Forschungen zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Band 2/III. Die Russische Revolution von 1905–1907 im Spiegel der deutschen Presse. Hrsg. von Leo Stern, Berlin 1961, S. 302. – Siehe auch Die Debatten in Köln. In: GW, Bd. 1, Zweiter Halbbd, S. 580 ff.