Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 1053

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hängt von Umständen ab, über die wir uns zunächst in keinen Vermutungen ergehen möchten, da sich diese Vermutungen rein ins Blaue hinein erstrecken müßten, beispielsweise von der Frage, ob die Regierungen den Sozialisten der kriegführenden Länder Pässe zum Besuche der Konferenz erteilen werden usw.

Wohl aber ist es notwendig, daß wir uns über die Frage, ob im gegebenen Falle die Konferenz von der Unabhängigen Sozialdemokratie Deutschlands zu beschicken sei, schon jetzt schlüssig werden. Ein Beschluß darüber ist bisher noch nicht gefaßt worden, aber es sind Stimmen laut geworden, die wenn sie durchdrängen, zu sehr verhängnisvollen Mißgriffen führen könnten. Davor rechtzeitig zu warnen, ist gleichermaßen unsere Pflicht, wie unser Recht. Die Zeit der Illusionen und Sentimentalitäten ist vorüber, und gerade in den Fragen der Internationale haben wir allen Anlaß, den Dingen klar und nüchtern ins Auge zu sehen. Wir haben wirklich keine Zeit, um Fehler zu begehen.

Ein solcher Fehler wäre die Illusion, von der das alte Internationale Büro beim Betreiben der Konferenz auszugehen scheint, als könne dadurch die zweite Internationale, die im Jahre 1889 begründet wurde und im Jahre 1914 zusammenbrach, wieder belebt werden. Man muß die Toten ihre Toten begraben lassen. Wir brauchen uns nicht gegen den Verdacht zu verwahren, als ob wir uns gegen die internationale Solidarität der Arbeiterbewegung überhaupt erklären wollten. Täten wir das, so wären wir keine Sozialdemokraten mehr. Aber so gewiß es ist, daß der internationale Gedanke sich immer wieder mit unwiderstehlicher Gewalt innerhalb des modernen Proletariats Bahn brechen und die Arbeiter aller Länder um sein Banner scharen wird, so gewiß ist auch, daß er niemals wieder in eine Form zurückschlüpfen kann, die unter der Wucht weltgeschichtlicher Ereignisse zusammengebrochen ist.

Auch nach dem Zusammenbruch der ersten Internationale, auf dem [Den] Haager Kongreß im Jahre 1872,[1] hat man sich noch jahrelang abgequält, sie wieder zusammenzuleimen, um dann doch einzusehen, daß dieser Liebe Müh’ umsonst war. Kämen in Stockholm wirklich eine Anzahl „prominenter“ Sozialisten zusammen und einigten sich über irgendeine Resolution, die ein Wiederaufleben der zweiten Internationale verkündete, so wäre diese Totenbeschwörung dazu verurteilt, eine tragikomische Episode in der Zeitgeschichte zu bleiben. Eine dritte Internationale wird kom-

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[1] Der Den Haager Kongreß der Internationalen Arbeiterassoziation fand vom 2. bis 7. September 1872 statt. An ihm nahmen 65 Delegierte aus 15 Ländern teil. Die Beschlüsse des Kongresses legten das Fundament für die Entwicklung selbständiger nationaler politischer Parteien des Proletariats. Die Führer der Bakunisten, M. A. Bakunin und J. Guillaume, wurden aus der IAA ausgeschlossen. Der Sitz des Generalrats wurde angesichts der allgemeinen politischen Situation in Europa von London nach New York verlegt.