Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 1050

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Ära monarchistischer Sozialreformen angekündigt,[1] aber sich gleichzeitig als Todfeind der Sozialdemokratie bekannt.

In ihrer kampflustigen Stimmung beschloß eine Reihe von deutschen Arbeiterorganisationen, den ersten Mai durch die Einstellung der Arbeit zu feiern. Aber da trat am 13. April die neugewählte Reichstagsfraktion in Halle zusammen und schüttete Wasser in den brausenden Wein. Sie konnte es „mit ihrem Gewissen nicht vereinigen“, den ersten Mai als einen Tag allgemeiner Arbeitsruhe zu empfehlen. Sie berief sich auf den Wortlaut des Pariser Beschlusses: „Insbesondere ist nicht davon die Rede gewesen, daß am 1. Mai 1890 die Arbeit ruhen solle. Wäre eine derartige Absicht ausgesprochen worden, so wäre sie auf entschiedenen Widerstand gestoßen, ebenso wie der Vorschlag, einen allgemeinen Streik zu organisieren, welcher Vorschlag von deutscher Seite bekämpft und von dem Kongreß zurückgewiesen wurde.“[2] Dazu wurde eine Reihe politischer Bedenken aufgezählt.

Deutlicher und kürzer, als in dem Aufruf der Reichstagsfraktion, wurden diese politischen Bedenken in einem Brief dargelegt, den Engels am 19. April 1890 an Sorge richtete. Er schrieb: „Auf den ersten Mai bin ich sehr begierig. In Deutschland war es Pflicht der Reichstagsfraktion, den übertriebnen Gelüsten entgegenzutreten. Die Bourgeois, die politische Polizei, bei der es jetzt ‚ums Brot geht‘, die Herren Offiziere, sie alle möchten gern dreinschlagen und schießen und suchen jeden Vorwand auf, dem jungen Wilhelm zu beweisen, daß er nicht rasch genug schießen lassen kann. Das würde aber unser ganzes Spiel verderben. Erst müssen wir das Sozialistengesetz los sein, d. h. den 30. Sept[ember] überstanden haben. Und dann machen sich die Dinge gar zu prächtig für uns, als daß wir sie uns durch pure Renommage verderben sollten. Im übrigen ist die Proklamation der Fraktion schlecht, sie ist von Liebknecht und der Blödsinn vom ‚allgemeinen Strike‘ ganz überflüssig. Aber einerlei wie, die Leute sind durch den 20. Febr[uar] so gehoben, daß sie einer gewissen Zügelung bedürfen, um keine Dummheiten zu machen.“[3] So schrieb der damals erste Mann des internationalen Proletariats, und wir führen sein Zeugnis um so lieber an, als wir weit entfernt sind, die Schuld daran, daß der Aufruf der Reichstagsfraktion der deutschen Maifeier von vornherein das Rückgrat gebrochen hat, auf die Personen dieser Fraktion zu schieben. Sie waren die Opfer eines allgemeinen Irrtums. Aber wenn es menschlich ist zu irren, so ist es durchaus nicht menschlich, im Irrtum zu beharren, nachdem seit fast einem Menschenalter das Maifest aus einem Weltensturmlauf des

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[1] Gemeint sind zwei Erlasse Wilhelms II. vom 4. Februar 1890, die das Ergebnis des Scheiterns der Bismarckschen Sozialpolitik und das der ökonomischen und politischen Massenkämpfe deutscher Arbeiter waren. Wilhelm II. schränkte sie noch am selben Abend ein.

[2] Siehe Aufruf der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion An die Arbeiter und Arbeiterinnen Deutschlands! In: Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Band III, März 1871 – April 1898, Berlin 1974, S. 326.

[3] Siehe MEW, Bd. 37, S. 395. Kleine Abweichungen im Zitat Rosa Luxemburgs wurden durch die Redaktion korrigiert.