Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 1041

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Mitte vereinigt.“ Das ist der sachliche Inhalt des Erlasses, den der Kaiser an den Reichskanzler gerichtet hat.[1]

Dieser Inhalt beschränkt sich also auf Versprechungen, die für eine – einstweilen noch unabsehbare – Zukunft gemacht werden. Sie sind insofern neu, als sie mehrere Einzelheiten enthalten, die in dem Versprechen, das bereits die Thronrede von 1908[2] für die Umbildung des preußischen Landtags gemacht hat, noch nicht enthalten waren. Es wird das geheime und unmittelbare Wahlrecht für das preußische Abgeordnetenhaus verheißen, nicht jedoch das gleiche Wahlrecht. Denn die Aufhebung des Klassenwahlrechts schließt das gleiche Wahlrecht noch keineswegs ein; es bleibt die Möglichkeit des Pluralwahlrechts,[3] wie es beispielsweise im Königreich Sachsen besteht. Hineingezogen in die „Umbildung des preußischen Landtags“ ist dann, im Unterschiede von 1908, noch das Herrenhaus, für dessen Reform jedoch gar keine Richtlinien angegeben werden. Denn „führende, durch die Achtung ihrer Mitbürger ausgezeichnete Männer in weiterem und gleichmäßigerem Umfange als bisher“ in das Herrenhaus zu berufen, ist schon jetzt das verfassungsmäßige Recht der Krone. Dafür, daß diese „führenden Männer“ aus irgendeiner Art von Wahl hervorgehen sollen – und nun gar aus welcher Art von Wahl – wird keine Bürgschaft gegeben.

Welcher Art ist nun aber die Bürgschaft überhaupt, auf der dieses neue Versprechen beruht? Ein Mitglied des Herrenhauses hat neulich die Thronrede von 1908 damit gekennzeichnet, daß es sagte, Thronreden wären zwar sehr achtenswerte Kundgebungen, aber sie sprächen nur die Ansichten der jeweiligen Minister aus und seien kein Felsen von Erz, auf den sich ein Staatsrecht gründen ließe. Staatsrechtlich ist das vollkommen richtig, und dieser wackere Gesetzgeber versteht sich jedenfalls weit besser auf konstitutionelle Verfassungen, als das „Berliner Tageblatt“, wenn es von dem gegenwärtigen Erlaß des Kaisers an den Reichskanzler schreibt: „Eine solche Erklärung bindet, sie bindet auch jede Regierung, die kommen könnte, und man löscht sie nicht wieder aus.“[4] Das ist grundfalsch; der Erlaß bindet den Reichskanzler, der ihn verantwortlich gezeichnet hat, aber keineswegs die Krone. Stößt seine Ausführung auf den Widerstand des Landtags, und zwar in seiner jetzigen Verfassung, so muß freilich Herr von Bethmann gehen, wenigstens nach konstitutionellem Staats-

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[1] Siehe Feierliche Ankündigung der Wahlreform. In: Vorwärts (Berlin), Nr. 96 vom 8. April 1917. – Im Berliner Tageblatt, Nr. 179 vom 8. April 1917 hieß die Verlautbarung: „Der Kaiser an das deutsche Volk. Die Umbildung des preußischen Landtags nach dem Kriege: Beseitigung des Klassenwahlrechts. – Unmittelbare und geheime Wahl zum Abgeordnetenhaus. – Neue Zusammensetzung des Herrenhauses.“

[2] Thronrede vom 20. Oktober 1908 siehe Deutscher Geschichtskalender für 1908. Sachlich geordnete Zusammenstellung der politisch wichtigsten Vorgänge im In- und Ausland. Von Karl Wippermann, Zweiter Band, Leipzig 1909, S. 162 f.

[3] Das Pluralwahlrecht ist ein undemokratisches Wahlrecht, bei dem die Wähler mit besonderen Voraussetzungen, wie hohem Einkommen, höherer Schulbildung usw., mehr als eine Stimme abgeben können.

[4] Siehe Der Kaiser an das deutsche Volk. In: Berliner Tageblatt, Nr. 179 vom 8. April 1917.