Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 1029

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nen sorgfältig abgelesenen, also vorher überlegten Reden vor. Darauf hatte Mehring erwidert, damit schlage Herr Stahl seinem geliebten Parteivorstande ins Gesicht, der in voller Kenntnis von Mehrings Vergangenheit diesem seit Jahrzehnten eine Ehrenstelle nach der anderen übertragen habe. Sofort nach dem Wahltage erhob sich aber Herr Wels, Mitglied des Parteivorstandes, in seiner ganzen reckenhaften Größe, und erklärte, Mehrings Protest sei Schwindel; die Regierungsozialisten hätten sich viel zu vornehm gedacht, um längst vergessene Geschichten gegen ihn geltend zu machen. Welch rührender Edelmut!

Machten die besonderen Verhältnisse des Wahlkreises Potsdam-Spandau-Osthavelland aus Gründen, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, einen Erfolg für die Anhänger Liebknechts schon sehr schwierig, so war jede Möglichkeit des Sieges ausgeschlossen, sobald es feststand, daß sich ein bürgerliches Angstheer um Herrn Stahl als den Mann ihres heißen Sehnens scharen würde. Man mußte sich damit bescheiden, daß eine Kerntruppe von 5000 Mann, von denen jeder weiß, was er will, und alle dasselbe wollen, ein wenig mehr bedeutet, als ein wirrer Haufen, worin Antisemiten, Gelbe, Reichsverbändler und Regierungssozialisten durcheinander quirlen.

Günstiger für uns lagen die Dinge im 11. Berliner Landtagswahlbezirk.[1] Hier hatten die bürgerlichen Parteien „nix to seggen“, bis auf die Freisinnigen,[2] die in diesem Wahlkreis anständig genug dachten, für sich zu bleiben und sich jedem Kuddelmuddel mit den Regierungssozialisten fernzuhalten. Hier stand die Schlacht also allein zwischen Sozialdemokraten und Regierungssozialisten, und diese haben denn auch die schönsten Prügel bekommen. Schon bei den Ersatzwahlen am 21. Februar erhielt die Opposition 216, die Scheidemänner genau – sechs Wahlmänner, was der „Vorwärts“ mit einer Dreistigkeit, von der man wohl sagen darf, daß sie in der Geschichte der deutschen Presse einzig dasteht, dahin umdichtete, etwa 35 Prozent seien für die Regierungssozialisten abgegeben worden. Wie er dann die endgültige Entscheidung umzufabeln gesucht hatte, ist den Lesern dieses Blattes schon bekannt.

Unter solchen betäubenden Schlägen kann man dann freilich wohl allen Edelmut vergessen. Wie Herr Stahl in Spandau,[3] so kramte Herr Brunner in Berlin 11 „die

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[1] Hier wurde Franz Mehring im März 1917 mit 341 Stimmen der insgesamt 433 Wahlmänner ins preußische Abgeordnetenhaus gewählt.

[2] Siehe S. 80, Fußnote 8.

[3] Schon am Wahltage, als noch vier kleine Orte ausstanden, hieß es über den Wahlsieg des Sozialdemokraten Stahl, das Volk habe gesprochen. „Die von den Spaltungsgruppen so oft angerufenen und für sich in Anspruch genommenen Massen traten wirklich in Erscheinung und gaben ihr Urteil ab.“ Siehe Vorwärts (Berlin), Nr. 73 vom 15. März 1917. Und am 16. März 1917 schrieb im Vorwärts (Berlin) Philipp Scheidemann, der sich rühmte, „in diesem widerwärtigsten aller Wahlkämpfe“ mehrere Male in Wählerversammlungen gesprochen zu haben: „Die Nachwahl im Kreise Potsdam-Osthavelland hat mit geradezu aufreizender Klarheit gezeigt, wohin die bunt zusammengewürfelte Opposition mit absoluter Notwendigkeit führen müßte, wenn die Arbeiterschaft dem unverantwortlichen Treiben der Arbeitsgemeinschaftler, der ‚Internationalen‘, der ‚Internationalisten‘, der Spartakusse und Spartakussinnen tatenlos zusehen wollte.“