Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 1006

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nes Alters die Flinte auf den Buckel nehmen,[1] und auf verschiedenen Parteitagen hat er ausgeführt, daß, wenn das Vaterland angegriffen würde, auch die Arbeiterklasse den Verteidigungskrieg unterstützen müsse, nicht aber den Angriffskrieg, wenn er vom Deutschen Reiche begonnen würde.[2]

Wir fügen nun dem Andenken Bebels kein Unrecht zu, wenn wir diese Auffassung als völlig unhaltbar verwerfen. Auch der begabteste Mensch kann nicht auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens gleich bewandert sein, und Bebel teilte seine Unkenntnis des Kriegswesens mit keinem Geringeren als Karl Marx. Nur daß Marx, wie sein Briefwechsel mit Engels ergibt, sich eben deshalb sorgsam enthielt, in Kriegsfragen leitende Gesichtspunkte der praktischen Politik aufzustellen; das überließ er seinem großen Mitkämpfer, der im Kriegswesen gründlich Bescheid wußte.

Wir erlauben uns auch keineswegs einen Treppenwitz gegen einen um die Arbeiterklasse hochverdienten, aber inzwischen verstorbenen Mann, wenn wir Bebels Unterscheidung zwischen Angriffs- und Verteidigungskrieg als hinfällig zurückweisen. Sofort, als Bebel sie machte, hatten der Schreiber dieser Zeilen und andere Parteigenossen aufs lebhafteste dagegen protestiert. Wir führten aus, daß Kriege niemals dadurch entständen, daß irgendein Despot auf den Einfall geriete, plötzlich ein Nachbarland zu überfallen. Kriege seien immer nur das Ergebnis tiefgreifender und weit zurückreichender Interessenkonflikte, die sich gewaltsam entlüden, weil sie sich friedlich nicht mehr lösen ließen.[3] Wolle man beim Ausbruch eines Krieges überhaupt von Angriff oder Verteidigung reden, so laufe diese Frage höchstens darauf hinaus, wer im letzten Augenblick, sozusagen in der sechzigsten Minute der zwölften Stunde, die diplomatischen Karten am geschicktesten zu mischen verstanden habe.

Leider ließ sich Bebel nicht überzeugen, sondern beharrte dabei, daß beim Ausbruch eines Krieges der gesunde Menschenverstand immer unterscheiden können werde, wer der Angreifer und wer der Verteidiger sei. Später hat er aber selbst zugeben müssen, daß sein Exempel das einzige Mal in seinem Leben, wo er eine praktische Probe darauf machen konnte, gänzlich versagt habe. In seinen Denkwürdigkeiten gibt er zu, daß er im Juli 1870 durch die diplomatische Kunst Bismarcks getäuscht worden sei; sonst würde er die Kriegskredite verweigert haben.[4]

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[1] Gemeint ist die Rede August Bebels am 7. März 1904 im Deutschen Reichstag in der Debatte zum Reichshaushaltsetat für 1904. Siehe Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags. XI. Legislaturperiode. I. Session, erster Sessionsabschnitt, 1903/1904, Band 198, Berlin 1904, S. 1588. In: August Bebel: Ausgewählte Reden und Schriften, Band 7/2, Reden und Schriften 1899 bis 1905. Bearbeitet von Anneliese Beske und Eckhard Müller, München 1997, S. 599.

[2] Siehe August Bebel: Die Stellung der Sozialisten zu einem eventuellen Krieg, Artikel in La Vie Socialiste vom 30. Juni 1905. In: ebenda, S. 796 ff. sowie Rede August Bebels am 16. September 1907 in der Debatte zum Bericht der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion an den Parteitag in Essen. Siehe ebenda, Band 8/1, München 1997, S. 260 ff.

[3] Siehe z. B. Offener Brief an Jean Jaurès. In. GW, Bd. 2, S. 240 ff. und S. 713.

[4] Siehe August Bebel: Aus meinem Leben. Bearb. von Ursula Herrmann unter Mitarbeit von Wilfried Henze und Ruth Rüdiger. In: August Bebel: Ausgewählte Reden und Schriften. Hrsg. von Horst Bartel, Rolf Dlubek, Heinrich Gemkow, Ursula Herrmann und Gustav Seeber, Berlin 1983, S. 299 f.