Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 1003

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die verschiedensten psychologischen Antriebe mit – schon froh sind, wenn sie vorläufig ein notdürftiges Schutzdach finden.

Ein solches notdürftiges Schutzdach – das höchstens vorläufig Unterschlupf gewährt – ist die Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft. In ihr sind sehr verschiedene Elemente zusammengeflüchtet, wie wir schon vor acht Tagen ausgeführt haben: alte sturmerprobte Kämpfer des Proletariats, mit denen wir uns freuen würden, Schulter an Schulter zu kämpfen, und politisch ganz unsichere Kantonisten, denen wir ein aufrichtiges Glück auf die Reise! mitgeben würden, wenn sie dahin zurücktrotten möchten, wohin sie ihr Herz zieht, nämlich zu den Scheidemännern. In der Arbeitsgemeinschaft brodelt und gärt es wild durcheinander, und in ihrer gegenwärtigen Form sind ihre Tage gezählt. Sie muß entweder vorwärts oder zurück, und wir haben allen Grund, ihre Entwicklung nach vorwärts zu beschleunigen, soweit das in unsern Kräften steht.

Sicherlich, wenn unsere Beteiligung an der Konferenz, die die Arbeitsgemeinschaft zu berufen beabsichtigt, irgendein Abweichen von dem Felsengrunde unserer Prinzipien bedeutete, so wären wir die ersten, die Beteiligung abzulehnen. Davon darf und kann in keiner Weise die Rede sein. Aber darum handelt es sich ja gar nicht. Es handelt sich nur darum, daß die Arbeitsgemeinschaft einen Schritt in der Richtung tun will, die wir von jeher befürwortet und gewünscht haben, und uns auffordert, sie zu begleiten. Was soll uns hindern, dieser Aufforderung zu folgen, natürlich immer unter der Voraussetzung, daß wir dabei unsern Grundsätzen nichts vergeben? Weil bittere Worte und heftige Anklagen zwischen beiden Richtungen gefallen sind? Du lieber Himmel! „In der Politik ist nichts abgeschmackter als der Groll“, sagt Cavour einmal,[1] und noch schlagender schreibt Marx: „Das bloß stumme Einhüllen in die Tiefe der eignen sittlichen Entrüstung lockt keinen Hund vom Ofen.“[2]

Gewichtiger ist der Einwand, daß, wenn wir uns unter ungeschmälerter Wahrung unserer Grundsätze an der geplanten Konferenz beteilige[n], doch nichts dabei herauskommen wird. Es ist möglich, vielleicht sogar wahrscheinlich, aber das wird nur der Schaden der Arbeitsgemeinschaft sein und ihren Auflösungsprozeß beschleunigen, während es unser Nutzen sein und unsere Auffassung in den Arbeitermassen immer tiefere Wurzeln schlagen lassen wird. Vergeben werden wir uns durch unsere Beteiligung an der Konferenz nicht das Geringste, solange wir sie als einen aufrichtig und ehrlich gemeinten Versuch der Arbeitsgemeinschaft betrachten dürfen, sich nach vorwärts zu entwickeln.

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[1] „In der Politik giebt es nichts Thörichteres als den Zorn.“ Siehe Die Politische Weisheit des Fürsten von Bismarck und des Grafen Camillo von Cavour. Dargelegt von Filippa Mariotti. Autorisierte Uebersetzung von M. Bernardi, Zweiter Band, Hamburg 1888, S. 492, nach: Le Comte du Cavour, Revits et Souvenirs par W. de la Rive, Paris 1862, S. 271.

[2] Siehe Marx an Engels, 12. November 1869. In: MEW, Bd. 32, S. 389.