Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 952

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-7-2/seite/952

Ruinen der Schlachten mußte die sanfte Passionsblume der christlichen Menschenliebe gepflanzt, auf die der Kultur geschlagenen blutenden Wunden mußte der Samariterverband der Rechtlichkeit gelegt werden. Das „Völkerrecht“ ist zu ganzen Bänden von Satzungen, Verträgen, Vereinbarungen gediehen, die den Zweck hatten, dem bürgerlichen Liberalismus das stolze Bewußtsein zu geben, daß in der zivilisierten, fortschrittlichen Neuzeit nicht wie in der rauen Vorzeit blind und grausam, sondern mit Rechtssatzungen und Barmherzigkeit gekriegt und getötet wird. Die Bourgeoisie brauchte hier wie in allen Stücken ihrer Klassenherrschaft eine Form des Rechts, die über den brutalen Inhalt hinwegtäuschte.[1]

Nun kam der heutige Weltkrieg und ließ in kürzester Frist von dem wohlgestalteten Bau des Völkerrechts nicht einen Stein auf dem andern. Noch nie war der grausame Inhalt so schroff aus allen umhüllenden Formen herausgetreten. Die nie dagewesene technische Vervollkommnung der Kriegsmittel, die die Grausamkeit des Kampfes über alle Begriffe steigern und, jeden Tag durch neue Erfindungen bereichert, aller früheren Satzungen und Vereinbarungen spotten; der Weltmaßstab des Krieges, der alle Großmächte in den Strudel des blutigen Kampfes gerissen hat, so daß kein unbeteiligter Richter oder Schwurzeuge des mit Füßen getretenen Rechts auch nur mit moralischem Gewicht seine Stimme erheben kann; vor allem aber der offenkundige Bankrott der höchsten moralischen und politischen Autorität der Neuzeit, des internationalen Sozialismus: All das hat in diesem Kriege jegliche Illusionen und Traditionen des „Völkerrechts“ zu Grabe getragen.

Die Geschicke der Völker wie der Klassen, der Krieg und der Friede haben sich als nackte Machtfragen herausgestellt. Wer die entfesselten Furien der imperialistischen Generalschlacht mit den Schleierfetzen des „Völkerrechts“ fesseln zu können vermeint, könnte ebensogut den Orkan mit einem Schmetterlingsnetz einfangen wollen. Jeder Krieg hat seine eigene Logik, und vollends der heutige Krieg, der in die Tiefen der kapitalistischen Klassengesellschaft greift, hat Kräfte wachgerufen, die den Drahtziehern der Weltgeschichte unheimlich über die kleinen Köpfe gewachsen sind, ja mit jedem Tage mehr über die Köpfe wachsen. Was der morgige Tag bringt, weiß heute der weiseste Staatsmann so wenig wie der einfältigste Türhüter am Portal eines Ministeriums.

Die Sicherheit des Friedens und die klare Berechnung der Weltgeschicke sind erst dann möglich, wenn ein neuer, berechenbarer Machtfaktor im Weltkrieg mit ins Spiel kommt: Der klare bewußte Wille der Völker. Wenn das sogenannte „Völkerrecht“ aus einem für die Völker geschriebenen Machwerk diplomatischer Kanzleien zu einem von den Völkern zur lebendigen Tat geschmiedeten Recht wird; wenn Menschlichkeit,

Nächste Seite »



[1] Siehe dazu auch Ein neues zaristisches Rundschreiben von 1899 sowie die Rede über den Völkerfrieden, den Militarismus und die stehenden Heere auf dem Internationalen Sozialistenkongreß in Paris 1900. In: GW, Bd. 6, S. 255 ff. und S. 304 ff.