Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 94

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tes, Scharfumgrenztes, Formfestes darstellt. Aber die Vereinigung mit dem rechten sozialistischen Flügel in Frankreich, das wäre heute eine Vermählung mit dem Chaos.

So geschlossen und symmetrisch sich nämlich die „neue Methode“ des Sozialismus in den schwungvollen und von poetischem Schimmer umglänzten Darlegungen Jaurès’ ausnimmt, so rettungslos zerfahren stellt sie sich in der Praxis seiner Freunde dar. Es läßt sich in dem Verhalten des rechten sozialistischen Fraktionsflügels mit seinen Kreuzundquerzügen keine einzige politische Regel außer dem Festhalten an dem Ministerium Millerands auffinden. Jede einzelne Stellungnahme wird nicht aus der sozialistischen Einschätzung der Frage selbst, sondern aus Rücksichten auf weitere politische Kombinationen abgeleitet. Erst verzichtet man auf die Niederwerfung der rebellischen hohen Militärs und schickt sich in die Amnestie in der Dreyfus-Sache, um die spätere Niederwerfung des Klerus zu ermöglichen. Als sich das Assoziationsgesetz als ein Humbug herausstellt, gibt man die Bekämpfung der Geistlichkeit um der versprochenen Altersrenten willen preis. Als die Alterspensionskassen sich zusammen mit den antiklerikalen Maßnahmen in blauen Dunst lösen, stimmt man immer noch für das Gesetz, um die republikanische Mehrheit nicht zu sprengen. Und wenn die republikanische Mehrheit alle Erwartungen täuscht, fügt man sich immer noch ihrem Joche, um das Ministerium aufrechtzuerhalten.

Ebenso ist es um die Motivierung jeder einzelnen Abstimmung in der Kammer bestellt. Gegen das sozialistische Amendement Groussiers, betreffend die Sicherstellung des Koalitionsrechtes, stimmt man aus dem Grunde, weil es von den Reaktionsparteien aus machiavellistischen Gründen unterstützt wird. Und bei dem sozialistischen Antrag Zévaès’, betreffend die Auflösung aller geistlichen Orden, stimmt man gleichfalls dagegen, obwohl er diesmal von der gesamten Reaktion bekämpft wird. Der Antrag Zévaès’ selbst wird bei seiner Ausarbeitung in der Fraktion erst von dem rechten Flügel adoptiert, dann in einer zweiten Fraktionssitzung nur der Gruppe Vaillant-Zévaès zur Vertretung überlassen, in einer dritten Fraktionssitzung adoptiert ihn der rechte Flügel zum zweiten Male, in einer vierten Sitzung überläßt er ihn abermals der Gruppe Vaillant-Zévaès, und schließlich in der Kammersitzung stimmt er geschlossen mit Mélinisten, Klerikalen und Monarchisten gegen den Antrag.

Es ist dies ein richtiges Bankerottierdasein, eine Politik von der Hand in den Mund, von heute auf morgen, gerichtet einzig nach den parlamentarischen Augenblickskombinationen, eine Jagd nach politischen Erfolgen, in der alles nach der Reihe um alles geopfert und schließlich nichts ein-

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