Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 311

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Angesichts so widersprüchlicher Anschauungen scheint der Einfluß der „Narodnaja Wolja“ auf das „Proletariat“ zunächst eine unverständliche Erscheinung zu sein, und die Verbindung so verschiedenartiger Elemente zu einem Ganzen eine schwer zu lösende Aufgabe. Während sich das „Proletariat“ in seinen Grundanschauungen auf allgemein-europäische, internationale Grundlagen stützte, war die „Narodnaja Wolja“ eine spezifisch russische, einheimische Erscheinung eigener Art. Wie und weshalb die Verbindung dieser beiden vollkommen verschiedenartigen Elemente trotzdem erfolgte, das ist eine Frage, deren richtige Klärung um so wichtiger ist, als gerade sie die entscheidende Rolle in der Geschichte und im Schicksal der Endphase des „Proletariat“ gespielt hat.

II

In der geistigen Entwicklung der Schöpfer der Partei „Proletariat“ kann man drei Phasen unterscheiden, deren mittlere, in bezug auf das Programm die wichtigste, gänzlich mit der Tätigkeit des klügsten Kopfes und des einflußreichsten Führers des damaligen Sozialismus in Polen, Ludwik Waryński, verbunden ist. Die erste Phase, die ungefähr bis zum Jahre 1880 dauerte, ist die Periode der theoretischen Gärung, deren Bereich hauptsächlich die sozialistische Emigration in der Schweiz umfaßt und deren literarisches Ausdrucksmittel die in. Genf erscheinende „Równość“ (Gleichheit) ist. Hier sehen wir zwar schon eine teilweise Anerkennung der Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus, insbesondere seiner ökonomischen Seite, sowie auch der Gesamtkritik der bürgerlichen Ordnung, aber hinsichtlich der praktischen Anwendung dieser Theorie, hinsichtlich des Programms einer unmittelbaren Tätigkeit ist der Standpunkt der „Równość“ noch vollkommen nebelhaft. Ihr Programm ist das sogenannte Brüsseler Programm, das im Jahre 1878[1] aufgestellt wurde. Nachdem es die ökonomischen und gesellschaftlichen Grundsätze der sozialistischen Gesellschaftsordnung in den ersten vier Punkten aufgezählt hat, verkündet es im folgenden, daß die Verwirklichung dieser Prinzipien die Aufgabe der „allgemeinen und internationalen Revolution“ sein soll, und fordert auf dieser Grundlage die nicht sehr verständlichen „föderativen

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[1] Im September 1878 war in Warschau unter Mitarbeit von Ludwik Waryński das Programm polnischer Sozialisten, zur Irreführung der zaristischen Polizei das Brüsseler Programm genannt, entstanden.