Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 74

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Intermezzo

Als wir vor einigen Wochen an dieser Stelle die interessanten Mitteilungen Vollmars, betreffend den Eintritt Millerands ins Ministerium und die Ansichten der internationalen Sozialdemokratie darüber, mit dokumentarischen Gegenbeweisen konfrontierten[1], da sagte uns bereits ein dunkles Vorgefühl: Sicher wird sich wieder irgendein fatales „Mißverständnis“ herausstellen.

Und richtig – das Mißverständnis ist da! Es bezieht sich vorerst auf die Behauptung, die Vollmar in seinem Artikel in den „Sozialistischen Monatsheften“ (Dezemberheft 1900)[2] aufgestellt hat und wonach auch der italienische Parteiführer Ferri seit dem Pariser Internationalen Kongreß[3] seine Meinung in bezug auf die Frage der sozialistischen Ministerschaft geändert haben sollte. Ferri hat diese Behauptung in einem Briefe, den wir hier (Neue Zeit, Nr. 16) zum Abdruck gebracht haben[4], sowie in einem Briefe an das Pariser „Mouvement Socialiste“ in aller Form dementiert. Nun erfahren wir aus einer Zuschrift Vollmars an das „Mouvement Socialiste“, wie er eigentlich dazu gekommen wäre, Ferri den plötzlichen Frontwechsel zuzuschreiben.

Das ganze Mißverständnis hat, wie es sich herausstellt, der römische Korrespondent des „Vorwärts“ verschuldet. Im „Vorwärts“ vom 17. Oktober stand nämlich, wie uns Vollmar jetzt erzählt, ausdrücklich geschrieben, Fern habe in einer Versammlung in Mantua gesagt: Wenn man eine wirkliche Politik der Reformen wolle, dann sollte das Experiment gänz-

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[1] Siehe Rosa Luxemburg: Die sozialistische Krise in Frankreich. In: GW, Bd. 1/2, S. 5–73.

[2] Ich hatte natürlich die Absicht, den Artikel, den Vollmar in den „Sozialistischen Monatsheften“ gegen mich gerichtet [Georg von Vollmar: Zum Fall Millerand. In: Sozialistische Monatshefte (Berlin), 4. Jg. 1900, S. 767–783.], selbst zu beantworten. Da aber Genossin Luxemburg bei dem Erscheinen dieses Artikels die Artikelserie schon mit mir besprochen hatte, die mit dem vorliegenden Artikel eingeleitet wird, und da ihre Ausführungen das meiste von dem überflüssig machen, was ich zu sagen gehabt hätte, verzichte ich aufs Wort. K. Kautsky

[3] Der Internationale Sozialistenkongreß fand vom 23. bis 27. September 1900 in Paris statt.

[4] Wir sind gezwungen, auch diese Vollmarsche Behauptung tatsächlichen Charakters richtigzustellen. In einer Zuschrift vom 12. Dezember v. J., die Kautsky uns übermittelt, schreibt Enrico Ferri:

„Ich bin nach wie vor gegen. In Mantua habe ich nur gesagt, daß, wenn das neue Königtum wirklich die Bahn der Reformes betreten will (wie dies unsere Politiker wiederholen nach dem Königsattentat und nachdem ihnen die Obstruktionskampagne die Ohnmacht der reaktionären Gesetze bewiesen hat), man Männer nehmen müßte, die die Reformen zu machen fähig wären, und nicht alte Reaktionäre (vom Typus Sonninos), die heute bloß von Reformen reden, um in die Regierung hineinzukommen.

Und da die äußerste Linke aus Sozialisten, Republikanern und Radikalen besteht, so sagte ich, daß man die Radikalen in die Regierung rufen möge (deren Leader, der Abgeordnete Sacili, offen den Monarchismus akzeptiert hat). Ich habe im Gegenteil stets gesagt, daß die Teilnahme von Sozialisten oder Republikaners an dem Ministerium in der italienischen Monarchie eine Unmöglichkeit oder eine Absurdität wäre. Ich habe das wiederholt kürzlich in einer Kammerrede (am 3. Dezember) gegenüber dem Programm des neuen Königtums. Ich habe also meine Ansichten in nichts seit Paris geändert.“