Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 204

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Steuerlos

[1]

Leipzig, 21. April

Die parlamentarische Phase des Kampfes in Brüssel ist zu Ende. Die Revision ist abgelehnt![2] Was nun? fragt sich gespannt die gesamte klassenbewußte Arbeiterschaft der Welt, fragt sich jedermann, dessen Blut bei den stündlichen telegraphischen Nachrichten vom Kampfplatze rascher in den Adern rollt.

Wir schrieben in unserer vorletzten Nummer[3], die Stunde der Entscheidung würde im Laufe des Freitag[4], nachmittags schlagen. An diesem Tage sollte nämlich in der Kammer der Antrag, betreffend die Verfassungsrevision, zur Abstimmung kommen. Die Situation schien wirklich den höchsten Punkt ihrer Spannung erreicht zu haben und eine neue Wendung im nächsten Augenblicke eintreten zu müssen. Darauf deutete auch die Haltung der sozialistischen Abgeordneten hin. Sie bekämpften die von der klerikalen Mehrheit bereits am Donnerstag beabsichtigte Ablehnung des Revisionsantrags mit solcher Verzweiflung, sie drohten mit so furchtbaren Folgen im Falle der sofortigen Erdrosselung der Diskussion über den Antrag, daß jedermann dabei voraussetzen mußte: Hinter der Ablehnung der Revision stehe ein äußerster Entschluß der sozialistischen Partei im Hintergrund, der Schluß der parlamentarischen Phase würde sofort eine neue Phase des Kampfes eröffnen.

Und nun? Welches ist die Konsequenz, die die sozialistischen Führer aus der Ablehnung der Verfassungsrevision in der Kammer am Sonnabend gezogen? Welchen Entschluß haben sie für die Fortsetzung des Kamp-

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[1] Dieser Artikel ist nicht gezeichnet. Er wurde in die von Clara Zetkin und Adolf Warski herausgegebenen und von Paul Frölich bearbeiteten „Gesammelten Werke“ Rosa Luxemburgs aufgenommen.

[2] Am 14. April 1902 begann in Belgien der Massenstreik, an dem sich über 300 000 Arbeitet beteiligten. Er wurde am 20. April vom Generalrat der belgischen Arbeiterpartei abgebrochen, obwohl die Forderungen nach Änderung des Wahlrechts und der damit verbundenen Verfassungsänderung am 18. April von der belgischen Kammer abgelehnt worden waren.

[3] Eine Stunde vor der Entscheidung. In: Leipziger Volkszeitung, Nr. 88 vom 18. April 1902.

[4] 18. April 1902.