Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 86

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Zum französischen Einigungskongreß

Am 26. Mai wird in Lyon der dritte Einigungskongreß der französischen Sozialisten eröffnet.[1] Wahrscheinlich werden auch aus diesem Anlaß wieder die herkömmlichen Friedensfanfaren ertönen und eindringliche Ermahnungen sowie gute Ratschläge an unsere französischen Brüder ergehen, ähnlich jenen, mit denen man sie beispielsweise auf dem Internationalen Kongreß zu Paris[2] so reichlich bedacht hat. Allein, diese Ermahnungen werden auch diesmal verlorene Mühe sein. Der bevorstehende dritte Einigungskongreß beginnt im Unterschied zu den beiden vorangegangenen unter allgemeiner Gewißheit über sein bevorstehendes Fiasko. Die größte sozialistische Organisation Frankreichs, die Französische Arbeiterpartei, beteiligt sich an dem Kongreß nicht, desgleichen die Fédération de Saône-et-Loire, die das nördliche Kohlenbecken umfaßt. Die andere alte Organisation, die Sozialistisch-revolutionäre Partei, wird sich zwar, treu ihrem Amte des Vermittlers und Friedensstifters, an den Beratungen in Lyon beteiligen, allein auch sie geht ohne jede Illusion in bezug auf die zu erreichenden Resultate zum Kongreß. Und sogar der alte Führer der Possibilisten und jetzige Anhänger Millerands, Brousse, erklärt den bevorstehenden Einigungsversuch unter den gegebenen Verhältnissen für verfehlt und aussichtslos. Unsere Aufgabe ist es demnach, nicht grundlose Illusionen zu nähren, zu mahnen oder zu bedauern, sondern über die inneren Verhältnisse des französischen Sozialismus klarzuwerden und aus ihnen heraus die jetzige Aussichtslosigkeit des Einigungskongresses zu erfassen suchen.

Am einfachsten freilich ist es, den Bösewicht ausfindig zu machen, auf

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[1] Am 3. Dezember 1899 begann im Pariser Gymnasium Japy ein allgemeiner Kongreß aller sozialistischen Gruppen Frankreichs, der über die Beteiligung sozialdemokratischer Minister an bürgerlichen Regierungen beriet. Der Kongreß verurteilte den Ministerialismus, ließ aber gegen die Stimmen der Guesdisten Ausnahmeregelungen zu. Die einzelnen Gruppen einigten sich über bestimmte Maßnahmen, die zukünftige gemeinsame Aktionen ermöglichen sollten.

[2] Der Internationale Sozialistenkongreß fand vom 23. bis 27. September 1900 in Paris statt.