Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 447

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Sozialdemokratie und Parlamentarismus

I

Der Reichstag ist wieder unter sehr bezeichnenden Begleiterscheinungen zusammengetreten. Einerseits erneute freche Ausfälle der Reaktionspresse vom Kaliber der „Post“ gegen das allgemeine Wahlrecht, andrerseits deutliche Zeichen der „Parlamentsmüdigkeit“ in den bürgerlichen Kreisen selbst, dabei die immer auffälligere Hinausschiebung in der Einberufung des Reichstags seitens der Regierung bis ganz kurz vor den Weihnachtsferien – alles das gibt ein krasses Bild des rapiden Verfalls des wichtigsten deutschen Parlaments und seiner politischen Bedeutung. Es ist nunmehr klar, daß der Reichstag in der Hauptsache nur zusammentritt, um den Etat, eine neue Heeresvorlage, neue Kredite für den afrikanischen Kolonialkrieg[1], im Hintergrund winkende unvermeidliche neue Marineforderungen und die Handelsverträge anzunehmen – lauter fertige Tatsachen, Ergebnisse der außerparlamentarischen Wirkung politischer Faktoren, vor die der Reichstag gestellt wird, um als automatische Jasagemaschine die Kosten dieser außerparlamentarischen Politik zu beschaffen. Wie sehr das Bürgertum diese klägliche Rolle seines Parlaments mit vollem Bewußtsein und voller Ergebenheit mitmacht, zeigt klassisch die Äußerung eines linksliberalen Berliner Blattes, das angesichts der neuen exorbitanten Militärforderungen, die eine Erhöhung der Präsenzstärke um mehr als 10 000 Mann und der Aufwendungen dafür im kommenden Quinquennat um 74 Millionen bedeuten und mit der üblichen Drohung, sonst die dreijährige Dienstzeit wieder einzuführen, dem Reichstag wie eine Pistole auf die

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[1] Anfang Januar 1904 hatten sich die Hereros in Südwestafrika gegen die Ausbeutung und Unterdrückung durch die deutschen Kolonialbehörden erhoben. Im Oktober 1904 schlossen sich die Hottentotten dem Aufstand an. Erst Anfang 1907 gelang es den deutschen Kolonialtruppen, den Aufstand mit militärischer Übermacht brutal niederzuschlagen.