Die Ursache der Niederlage
[1]Leipzig, 22. April
Wir haben also in Belgien eine Niederlage[2], es ist unnütz und zwecklos, es zu vertuschen. Wir pflegen zwar zu behaupten, für uns Sozialdemokraten gibt es keine Niederlagen, und diese Behauptung ist in einem bestimmten Sinne vollkommen wahr. Es kann nämlich dem kämpfenden klassenbewußten Proletariat von keiner feindlichen Macht der Welt eine Niederlage bereitet werden. Erliegt die Sache der Sozialdemokratie auch für einen Augenblick der Übermacht des Feindes, so reckt sie sich im nächsten Augenblick um so gewaltiger in die Höhe, und das, was die triumphierende bürgerliche Welt in ihrem momentanen Siegestaumel für unsere Niederlage hielt, erweist sich sehr bald als unser Sieg. So war es mit der Niedermetzelung der Kommune, so war es mit dem Sozialistengesetz.
Aber eine Niederlage im vollen Sinne des Wortes ist es für uns, wenn wir nicht der Übermacht der Gegner erliegen, wenn wir, ohne es zu einer Machtprobe überhaupt kommen zu lassen, vor dem entscheidenden Kampfe uns selbst für Besiegte erklären. Und das ist leider in Belgien jetzt der Fall gewesen.
„Wir sind geschlagen!“ erklärte Vandervelde den Arbeitermassen im Volkshause am Freitag[3] abend, nach der Verwerfung der Verfassungsrevision im Parlament.
„Noch nicht!“ antwortete man ihm aus der Menge.
„Was tun?“ fragte weiter der belgische Parteiführer.
„Siegen auf der Straße!“ rief man zur Antwort aus dem Haufen.
[1] Dieser Artikel ist nicht gezeichnet. Er wurde in die von Clara Zetkin und Adolf Warski herausgegebenen und von Paul Frölich bearbeiteten „Gesammelten Werke“ Rosa Luxemburgs aufgenommen.
[2] Am 14. April 1902 begann in Belgien der Massenstreik, an dem sich über 300 000 Arbeitet beteiligten. Er wurde am 20. April vom Generalrat der belgischen Arbeiterpartei abgebrochen, obwohl die Forderungen nach Änderung des Wahlrechts und der damit verbundenen Verfassungsänderung am 18. April von der belgischen Kammer abgelehnt worden waren.
[3] 18. April 1902.