Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 126

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Indem Fendrich und Genossen uns von „allgemeinen Gefühlseindrücken“ und „intuitiver Erkenntnis des nüchternen Menschenverstandes bei den Leuten aus dem Volke“ reden, unterstellen sie den „Leuten aus dem Volke“ die eigenen Ansichten der „praktischen Politik“, das heißt des Opportunismus, und wo sie die Verständnislosigkeit „der Massen“ vorschützen, zeigen sie nur ihre eigene Verständnislosigkeit für das Wesen der sozialdemokratischen Parlamentspolitik.

III

Fendrich und Genossen können sich freilich auch den Fall denken, wo sie rebellisch werden und die Regierung mit einem Mißtrauensvotum mal tüchtig schrecken können. Aber bevor diese „außerordentliche Aktion“ in Baden inszeniert wird, muß es schon mindestens Pech und Schwefel regnen. Denn vorläufig werden „die sozialdemokratischen Fraktionen der Landtage in jeder Beziehung als gleichberechtigt [Hervorhebung – R. L.] mit den anderen anerkannt“ (S. 656 u. 661), und solange diese „Gleichberechtigung“ währt, geloben Fendrich und seine Freunde, daß sie für ein Mißtrauensvotum an ihre Regierung nicht zu haben sind.

Worin die famose „Gleichberechtigung“ der badischen Sozialdemokraten im Landtag besteht, ist eigentlich schwer zu sagen. Offenbar darin, daß Fendrich in dem Landtag frei herumspazieren darf, ohne daß ihm jemand absichtlich auf die Hühneraugen tritt, und daß ihm der Präsident nicht zuruft, sobald er zu reden beginnt: Halten Sie doch den Mund, Sie dämlicher Sozialdemokrat! Das sind allerdings paradiesische Zustände. Nur ist Fendrich und seinen Kollegen das kleine Versehen passiert, daß sie sich selbst, sieben Mann, mit der badischen Arbeiterklasse verwechselt haben. Diese ist nämlich nicht ganz so „gleichberechtigt“ im Staate wie ihre beneidenswerten Vertreter in der Kammer. Ihr tritt die Polizei sogar sehr oft auf die Hühneraugen, zum Beispiel wenn sie ihre Klassenfeier, den Ersten Mai, begehen will. Sie läßt der Staat nicht immer bei öffentlichen Angelegenheiten den Mund auftun, so zum Beispiel nicht bei den Wahlen. In Baden gibt es kein allgemeines, direktes Wahlrecht zum Landtag, aber Fendrich fühlt sich „in jeder Beziehung gleichberechtigt“! Es gibt kein allgemeines, direktes Gemeindewahlrecht, aber trotzdem schwelgt Fendrich im Vollgenuß der konstitutionellen Freiheiten! Die Arbeiter und Angestellten der badischen Staatseisenbahnen petitionieren umsonst um Erhöhung ihrer Hundelöhne, aber Fendrich fühlt sich nach wie vor „gleichberechtigt“!

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