Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 282

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II Antrag 91

[1]

Da die ökonomischen und politischen Interessen des polnischen wie des deutschen Proletariats im Deutschen Reiche die gleichen sind,

da ferner die Sozialdemokratie es für ihre Pflicht erachtet, die polnische Arbeiterklasse auch gegen die Unterdrückung ihrer Nationalität zu schützen, und dieser Pflicht stets nach Kräften nachgekommen ist,

da endlich die Sozialdemokratie ihre deutschen und polnischen Mitglieder stets als vollkommen gleichberechtigt betrachtet und behandelt und die Agitation unter dem polnischen Proletariat materiell und moralisch in kräftigster Weise unterstützt,

so muß die Absonderung einer polnischen Gruppe, der Polnischen Sozialistischen Partei, von der Gesamtpartei als gänzlich ungerechtfertigtes Vorgehen erscheinen, das durch separatistische Tendenzen hervorgerufen wurde, die mit den Aufgaben der Sozialdemokratie nichts zu tun haben.

Der Parteitag verurteilt scharf die von der Gruppe Polnische Sozialistische Partei provozierten Doppelkandidaturen in Oberschlesien[2] und fordert die polnischen Parteigenossen, die auf dem Boden der Sozialdemokratie stehen, auf, dieser demoralisierenden Sonderbündelei baldmöglichst ein Ende zu bereiten.

Die Gegenkandidaten der Polnischen Sozialistischen Partei kommen von nun an als Parteikandidaten nicht mehr in Betracht. Damit sind die Anträge 12 und 13[3] als erledigt zu betrachten. Über die Anträge 14 und 15[4] geht der Parteitag zur Tagesordnung über.

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[1] Diese von Rosa Luxemburg und 22 Sozialdemokraten eingebrachte Resolution wurde mit einem Abänderungsvorschlag August Bebels angenommen. Danach bekamen die letzten drei Absätze folgende Fassung: „... so muß die Absonderung einer polnischen Gruppe, der Polnischen Sozialistischen Partei, die sich in einen Gegensatz zur Gesamtpartei gestellt hat, als ein ungerechtfertigtes Vorgehen angesehen werden. Der Parteitag verurteilt scharf die von der Gruppe Polnische Sozialistische Partei provozierten Doppelkandidaturen in Oberschlesien und ersucht den Parteivorstand, nochmals den Versuch zu machen, eine Verständigung zwischen den streitenden Parteien herbeizuführen, die im Interesse der gesamten Sozialdemokratie liegt.“ (Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu München vom 14. bis 20. September 1902, Berlin 1902, S. 88.)

[2] Auf Initiative der deutschen Sozialdemokratie war im Dezember 1890 die Vereinigung polnischer Sozialisten in Berlin gegründet worden, die sich im September 1893 unter Führung von Franciszek Morawski und Franciszek Merkowski mit anderen polnischen sozialistischen Gruppen zur Polnischen Sozialistischen Partei (PPS) des preußischen Teils von Polen konstituierte. Sie war bis 1903 ein autonomer Bestandteil der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. In Lwów hatte im Januar 1892 ein Kongreß sozialistischer Gruppen und Arbeiterorganisationen stattgefunden, auf dem unter Führung von Ignacy Daszyński, Samuel Haecker u. a. die Galizische Sozialdemokratische Partei, auch Sozialdemokratische Partei Galiziens genannt, als Teil der österreichischen Sozialdemokratie geschaffen worden war. In Oberschlesien hatte die Polnische Sozialistische Partei für die Reichstagswahl 1903 eigene Kandidaten nominiert, ohne sich mit dem Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, der schon Kandidaten benannt hatte, zu verständigen.

[3] In den Anträgen 12 und 13 wurde gefordert, die Kandidaten der Polnischen Sozialistischen Partei abzulehnen und die sozialdemokratischen Kandidaten zu unterstützen.

[4] In den Anträgen 14 und 15 wurde die Anerkennung der Sonderorganisation der polnischen Sozialisten und ihrer Kandidaten gefordert.