Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 515

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der Fall gewesen war. Um diesen weiteren Verlauf der Bewegung sowie deren Zusammenhang mit ihrem Ausgangspunkt, der Petersburger Revolte, zu begreifen, ist es gleichermaßen notwendig, bereits den ersten Ausbruch der Revolution nicht nach ihren zufälligen und vorübergehenden Erscheinungsformen, sondern in ihrem inneren Sinn und Inhalt zu erkennen: als die Klassenerhebung eines in hohem Maße aufgeklärten modernen Proletariats.

III

Schon die erste Periode der Revolution im Zarenreich, die wir soeben erlebt haben, hat der Arbeiterklasse innerhalb der Gesellschaft eine Stellung der führenden Klasse erobert und gesichert, und zwar in einem Maße, wie es in keiner der bisherigen Revolutionen der Fall war. Freilich waren auch die modernen Revolutionen in Frankreich, in Deutschland, in den westeuropäischen Ländern das Werk des arbeitenden Volkes. Sein Blut floß auf den Straßen von Paris, Berlin und Wien, seine Söhne fielen auf den Barrikaden, seine Opfer haben den Sieg der modernen Gesellschaft über den mittelalterlichen Feudalismus erkauft. Aber die arbeitenden Massen waren hier bloß Hilfstruppen und das Werkzeug der bürgerlichen Revolution. Den Geist, die Richtung, die Führung der Revolution bestimmte jedesmal das Bürgertum, und seine Klasseninteressen waren auch geschichtlich die treibende Kraft der revolutionären Erhebungen.

Gegenwärtig in Rußland sehen die Dinge völlig anders aus. Freilich gibt es und gab es seit jeher auch im Zarenreich bürgerliche oppositionelle Strömungen und Gruppen. Im eigentlichen Rußland war es der Liberalismus, in der westlichen Zone des Reiches die nationale Opposition, die vor allem in Polen einst zu zwei mächtigen Aufständen – im Jahre 1831[1] und 1863[2] – geführt hat. Allein gerade die Geschichte der letzten Periode des Kampfes mit dem Zarismus hat die vollkommene Ohnmacht dieser beiden Bewegungen erwiesen.

Der russische Liberalismus, „bürgerlich“ mehr im Sinne des Nichtproletarischen, war seit jeher – und ist bis auf den heutigen Tag geblieben – nicht der Ausdruck der kapitalistisch-bürgerlichen Entwicklung, sondern vielmehr der Opposition einerseits des agrarischen Adels, der als Getreide exportierende Klasse am Freihandel interessiert und gegen die extreme Schutzzollpolitik des Absolutismus aufgebracht ist, die ihn mit teuren land-

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[1] Siehe Bd. 1/1, S. 96. Fußnote 1.

[2] Siehe Bd. 1/1, S. 33, Fußnote 2.