Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 394

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Geknickte Hoffnungen

Das Verhalten der gesamten bürgerlichen Presse gegenüber den Vorgängen in unserer Partei[1] beweist wieder einmal, wie untrüglich der Klasseninstinkt über alle äußeren Differenzen der bürgerlichen Parteien triumphiert. Sie sind wieder einmal einig, die Nationalliberalen und das Zentrum, der Knuten-Oertel[2] und die Vossischen Erben[3], einig in der larmoyanten Freude und dem Triumphgeschrei über die Jämmerlichkeit der Sozialdemokratie. Die einen freuen sich über die „gegenseitige Abtuerei“, die endlich begonnen habe und die schöne Hoffnung in Erfüllung zu bringen anfange, die Sozialdemokratie, gegen die kein Kraut auf bürgerlicher Wiese gewachsen, würde sich einmal selbst „zerfleischen“. Die anderen triumphieren über das Mißgeschick einiger Akademiker in der Sozialdemokratie als über den Beweis, daß zwischen dem „gebildeten Manne“ und der „blinden Masse“ eine unüberbrückbare Kluft gähne, bei deren Überspringen „man sich den Hals breche“. Die dritten jubeln, daß nunmehr die Sozialdemokratie nicht mehr erhobenen Hauptes wird auf die bürgerliche Welt herabblicken dürfen, denn auch sie habe das Gerippe der Korruption im eigenen Hause – tout comme chez nous. Und alle stimmen sie unisono das Lied an, das Ansehen, die faszinierende Gewalt der Sozialdemokratie sei vernichtet! Für immerdar!

Die Freude ist gut geheuchelt. So gut, daß ein Parteiblatt sie sogar allen Ernstes als aufrichtiges „Frohlocken“ aufgefaßt hat, das es mit patheti-

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[1] Rosa Luxemburg bezieht sich auf den sozialdemokratischen Parteitag in Dresden vom 13. bis 20. September 1903, der mehrheitlich eine Resolution gegen den Revisionismus angenommen hatte.

[2] Gemeint ist der Konservative Georg Oertel, Chefredakteur der „Deutschen Tageszeitung“ und Mitglied des Reichstags.

[3] Gemeint ist die Freisinnige Volkspartei unter Führung von Eugen Richter, der die „Vossische Zeitung“ sehr nahestand.