Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 265

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Vor Ludwigshafen

[1]

Leipzig, 13. Juni

Wir scheinen mitten in der Ära opportunistischer Niederlagen zu stehen. Auf den kläglichen Verfall des ministerialistischen Sozialismus in Frankreich[2] war das eklatante Fiasko der Wahlrechtskampagne in Belgien[3] gefolgt, und kaum hat sich die Erregung des internationalen Proletariats über dieses Fiasko etwas gelegt, als schon die Kunde von einer neuen Niederlage des „staatsmännischen Geistes“ in der Arbeiterbewegung aus Bayern kommt. Was in allen drei Fällen das spezifische Charakteristikum der sozialistischen Taktik ausmacht, ist die Hoffnung, durch ein entgegenkommendes parlamentarisches Zusammenarbeiten mit den bürgerlichen Parteien praktische Erfolge zu erzielen, und die Furcht, durch den unmittelbaren Druck der Massen zu wirken. Was in allen drei Fällen das Resultat dieser Taktik bildet, ist eine Reihe praktischer Niederlagen und eine politische Demoralisation der Arbeitermassen obendrein.

Der bayerische Fall ist von diesem Standpunkte ein klassisches Beispiel. Als es sich um die Frage der Budgetabstimmung handelte, da beruhte das Hauptargument der bayerischen und badischen Anhänger der Etatsbewilligung darauf, daß die prinzipielle Ablehnung des Budgets durch die Sozialdemokratie bloß eine „Zeremonie“, ein konventioneller Akt ohne jede praktische Bedeutung, ein Ritus sei. Vom Standpunkte des Opportunismus war dieser Einwand wenigstens konsequent. Für „praktische Politiker“ der Sozialdemokratie ist alles, was nur moralischen, agitatorischen, aufklärenden Wert besitzt und nicht unmittelbar auf die klingende Münze eines handgreiflichen Erfolges hinausläuft, ebenso wertlos und unsinnig wie für jeden

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[1] Dieser Artikel ist nicht gezeichnet. Er wurde in die von Clara Zetkin und Adolf Warski herausgegebenen und von Paul Frölich bearbeiteten „Gesammelten Werke“ Rosa Luxemburgs aufgenommen.

[2] Alexandre-Etienne Millerand, der in der französischen sozialistischen Bewegung eine sozialreformerische Richtung vertrat, war vom 22. Juni 1899 bis 28. Mai 1902 im reaktionären bürgerlichen Kabinett Waldeck-Rousseau Handelsminister. Dieser erstmalige Eintritt eines Sozialisten in die Regierung eines bürgerlichen Staates führte in der II. Internationale zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den revolutionären Kräften und Reformisten.

[3] Am 14. April 1902 begann in Belgien der Massenstreik, an dem sich über 300 000 Arbeitet beteiligten. Er wurde am 20. April vom Generalrat der belgischen Arbeiterpartei abgebrochen, obwohl die Forderungen nach Änderung des Wahlrechts und der damit verbundenen Verfassungsänderung am 18. April von der belgischen Kammer abgelehnt worden waren.