Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 5

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Die sozialistische Krise in Frankreich

[1]

I Einleitung

Der Fall Millerand[2] bildet die erste interne Frage der sozialistischen Bewegung eines Landes, die allgemeines internationales Interesse beansprucht und zum Gegenstand der Beratungen eines Internationalen Sozialistischen Kongresses[3] wurde. Leider hat der Pariser Kongreß seine Aufgabe mehr als Theoretiker denn als praktischer Politiker aufgefaßt und der allgemeinen theoretischen Beantwortung der neunten Frage seiner Tagesordnung nicht eine ausdrückliche Stellungnahme zum Falle Millerand hinzugefügt. Jede Resolution allgemeinen Charakters gibt, ob sie mehr oder weniger glücklich gefaßt ist, Deutungen und Auslegungen Raum. So haben sich denn auch gleich nach dem Kongreß Jaurès in Frankreich und Bernstein in Deutschland beeilt, den Ausgang des Pariser Kongresses als einen für Millerand günstigen hinzustellen, endlich tritt auch Vollmar in dem Dezemberheft der „Sozialistischen Monatshefte“ auf, um Kautskys Kompetenz in der Auslegung der Kautskyschen Resolution zu bestreiten und letztere als einen Sieg Millerands auszulegen. Insofern v. Vollmar seiner eigenen Begeisterung über die Ministerschaft Millerands und ihre

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[1] Ich hatte natürlich die Absicht, den Artikel, den Vollmar in den „Sozialistischen Monatsheften“ gegen mich gerichtet [Georg von Vollmar: Zum Fall Millerand. In: Sozialistische Monatshefte (Berlin), 4. Jg. 1900, S. 767–783.], selbst zu beantworten. Da aber Genossin Luxemburg bei dem Erscheinen dieses Artikels die Artikelserie schon mit mir besprochen hatte, die mit dem vorliegenden Artikel eingeleitet wird, und da ihre Ausführungen das meiste von dem überflüssig machen, was ich zu sagen gehabt hätte, verzichte ich aufs Wort.

K. Kautsky

[2] Alexandre-Etienne Millerand, der in der französischen sozialistischen Bewegung eine sozialreformerische Richtung vertrat, war vom 22. Juni 1899 bis 28. Mai 1902 im reaktionären bürgerlichen Kabinett Waldeck-Rousseau Handelsminister. Dieser erstmalige Eintritt eines Sozialisten in die Regierung eines bürgerlichen Staates führte in der II. Internationale zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den revolutionären Kräften und Reformisten.

[3] Auf dem Internationalen Sozialistenkongreß vom 23. bis 27. September 1900 in Paris war nach längerer Diskussion zum Eintritt Alexandre-Etienne Millerands in die bürgerliche Regierung Waldeck-Rousseau eine von Karl Kautsky ausgearbeitete Resolution angenommen worden, in der dieses Verhalten nicht prinzipiell abgelehnt wurde. Dieser Resolution zufolge konnte die Beteiligung eines Sozialisten an einer bürgerlichen Regierung von Fall zu Fall entschieden werden.