Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 199

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Fahne die fatalen zwei Buchstaben „S. U.“ (Suffrage Universel = allgemeines Wahlrecht), die dem belgischen Geldsackparlament wie das alte Menetekel mit Feuerschein in die Augen leuchteten.

II

Leipzig, 15. April

Seit dem denkwürdigen Frühling des Jahres 1886 ist die Frage des allgemeinen Wahlrechts nicht bloß zum Zentralpunkt der belgischen Arbeiterbewegung geworden, sondern sie beherrscht bis auf heute das gesamte politische Leben Belgiens. Seit sechzehn Jahren ist es eine gewaltige Krise, die das Land wie ein schleichendes Fieber schüttelt und sich abwechselnd in heftigen Explosionen oder in Perioden stiller Depression äußert.

Auf den ersten Sturm folgte zunächst eine längere Pause. Von der herrschenden klerikalen Partei wurde sie ausgenutzt zu einigen matten, feigen Versuchen, sich den Schein der Arbeiterfreundlichkeit zu geben. Eine Kommission aus Vertretern aller bürgerlichen Gattungen, aus Gelehrten, wie de Laveleye, de Molinari, Senatoren, Advokaten, Ingenieuren etc., wird zwecks Studium der sozialen Frage eingesetzt. In Lüttich vereinigen sich zum Kongreß katholische Sozialreformer[1], belgische und anderweitige höhere und niedere Pfaffen. Und das Ergebnis all dieser Anläufe sind: ein schwächliches Gesetz zur Sicherstellung der Arbeiterlöhne im Jahre 1887 und das bereits erwähnte Gesetz betreffend die Arbeit der Frauen und Kinder im Jahre 1889.

Die Diskussionen in der Kammer aus Anlaß dieser Sozialreformen dienten schließlich nur dazu, die Arbeiterschaft in der Überzeugung zu befestigen, daß gegen die vereinigte Bestialität des junkerlichen und kapitalistischen Klassenegoismus einzig und allein die Vernichtung des Zensusparlaments das richtige Mittel ist.

Nach fünfjähriger Sammlung erfolgte denn auch der zweite Akt. Diesmal waren es aber nicht mehr unordentliche Haufen Verzweifelter, die planlos und zügellos ihrer Erbitterung in allerlei Exzessen Luft machten. Die Pause seit der ersten Explosion ward von dem Proletariat ganz anders zur politischen Schulung ausgenützt als von der Bourgeoisie. Die entschlossene Erhebung des allgemeinen Wahlrechts zum Schlachtruf der Arbeiterunruhen im Jahre 1886 führte sehr bald zur Klärung und Konzentrierung der gärenden Unzufriedenheit der Massen. Noch im Jahre 1886 konnten einige Überbleibsel jener anarchistischen Richtung, die auch die

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[1] Der Kongreß katholischer Sozialreformer fand vom 26. bis 29. September 1866 in Lüttich statt.