Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 127

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Ja, die badische Regierung arbeitet im löblichen Eifer zusammen mit den anderen verbündeten Regierungen für die deutsche Arbeiterklasse die Zuchthausvorlage[1] aus, sie beteiligt sich mit anderen an der deutschen Weltpolitik, am Chinakrieg[2], am Länderraub, sie betreibt mit anderen den Brotwucher, aber Fendrich sitzt im Karlsruher Landtag und erklärt: Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts, ich bin ganz „gleichberechtigt“. Und endlich oder vielmehr zu allererst: Die Arbeiterklasse lebt im regelrechten System der Lohnsklaverei, sie lebt unter dem Regime der kapitalistischen Klassenherrschaft – aber ihre Vertreter im Parlament fühlen sich „in jeder Beziehung gleichberechtigt“! Sozialdemokratische Abgeordnete werden in den Landtag geschickt als Ausdruck des Protestes gegen die Entrechtung, die Versklavung, die Unterdrückung der Arbeiterklasse, sie treten in den Landtag und erklären: Es tut uns leid, wir sind „in jeder Beziehung so gleichberechtigt“, daß es uns unmöglich ist, dem kapitalistischen Staate ein Mißtrauensvotum zu geben!

Hier haben wir wieder von einer neuen Seite die rein bürgerliche Auffassung des parlamentarischen Kampfes vor uns. Nicht die sozialen, nicht die politischen Verhältnisse im Lande, nicht die allgemeine Lage der Volksmasse sind maßgebend für die Haltung im Parlament, sondern die formellen Verhältnisse innerhalb der Kammer selbst. Solange man um die Wette mit anderen in dem großen Bassin der parlamentarischen Beredsamkeit wie die Ente im Teiche herumplätschern darf, ist man „in jeder Beziehung gleichberechtigt“, und Fendrich wird die Klassenentrechtung des badischen Proletariats nicht eher zugeben, als bis ihn der Portier aus dem Landtagssaal direkt hinausschmeißt und ihm seinen Überzieher nachwirft. Dann – ja, dann wäre allerdings auch er bereit, das Budget zu verweigern.

IV

Es ist tatsächlich unverkennbar, daß das ganze Räsonnement unserer badischen Parlamentarier eine Verleugnung der elementarsten Begriffe der Sozialdemokratie darstellt. Die Abschätzung des Klassencharakters des Staates nach einzelnen Etatsposten anstatt nach dem Gesamtcharakter seiner Tätigkeit, die Anpassung der sozialdemokratischen Handlungsweise an Begriffe und Wünsche von Bevölkerungskreisen, welche von den Endzielen der Sozialdemokratie nichts wissen und nichts wissen wollen, endlich

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[1] Am 20. Juni 1899 hatte die Regierung im Reichstag einen Gesetzentwurf „zum Schutz der gewerblichen Arbeitsverhältnisse“, die sogenannte Zuchthausvorlage, eingebracht, die sich gegen die zunehmende Streikbewegung richtete und die Beseitigung des Koalitions- und Streikrechts der Arbeiter bezweckte. Auf Grund gewaltiger Massenaktionen konnte diese Vorlage am 20. November 1899 im Reichstag gegen die Stimmen der Konservativen zu Fall gebracht werden. Dieser Gesetzentwurf geht auf einen Geheimerlaß vom 11. Dezember 1897 zurück, den der „Vorwärts“ am 15. Januar 1898 veröffentlicht hatte.

[2] 899 war in Nordchina der Volksaufstand der Ihotuan ausgebrochen, der 1900 durch die vereinigten Armeen von acht imperialistischen Staaten unter Führung des deutschen Generals Alfred Graf von Waldersee grausam niedergeworfen wurde. In einem Abschlußprotokoll von 1901 wurde China u. a. gezwungen, etwa 1,4 Milliarden Mark Kontributionen zu zahlen und der Errichtung von Stützpunkten für die Interventionsarmeen zuzustimmen.