Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 128

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die Lostrennung der Parlamentspolitik von der allgemeinen sozialen Lage des Proletariats und der Politik der deutschen Einzelstaaten von der allgemeinen politischen Lage im Reiche – das sind Merkmale davon, daß man sich in gewissen Kreisen der Partei bereits glücklich bis zu einem Punkte durchgemausert hat, wo die sozialdemokratische Denkweise zu verschwinden beginnt. Es ist deshalb höchste Zeit, diesen Kreisen in Erinnerung zu rufen, daß für die Sozialdemokratie die Verwerflichkeit des heutigen Staates nicht in seinen Ausgaben für Apanagen, Polizei und Zivilliste, sondern in seinem ganzen Wesen, in seiner gesamten Tätigkeit besteht; daß sozialdemokratische Abgeordnete gewählt werden, nicht um wildgewordenen Kleinbürgern nach dem Munde zu reden, sondern um die Wünsche und Ansichten klassenbewußter Proletarier zu vertreten; daß es ferner keine badische, bayerische, hessische etc. Sozialdemokratie gibt, die jede für sich nur ihre politische Extrarechnung mit ihrem Staate führt, sondern lediglich eine deutsche Sozialdemokratie und daß endlich ein deutscher Sozialdemokrat im Parlament so lange sich nicht als „gleichberechtigt“ und zu Vertrauensvoten an die Regierung verpflichtet fühlen darf, als die deutsche Arbeiterklasse das kapitalistische Lohnsystem nicht abgeschüttelt hat.

Im Anfang steuerte die Theorie der Budgetbewilligung unter der Flagge der „praktischen Politik“ einher. Es handelte sich angeblich um „Ausnahmefälle“, wo wichtige materielle Vorteile durch die eigensinnige „Intransigenz“ verscherzt, wo schwerwiegende Nachteile durch die Bewilligung von der Arbeiterklasse abgewehrt werden könnten.

Die „außerordentlichen Fälle“ in der Art des hessischen Falles haben sich indes seitdem nicht wiederholt, die Sozialdemokratie ist nicht wieder in eine Zwangslage gekommen, aber die Budgetbewilligung ist im Süden beinahe zur lieben Gewohnheit geworden.

Fragt man, welchen praktischen, unmittelbaren Nutzen die Partei von dieser systematischen Verletzung der sozialdemokratischen Grundsätze hat, so kriegt man ein verlegenes Schweigen zur Antwort. Und fragt man, aus welchem Grunde sie denn ohne jeden ersichtlichen Zweck begangen wurde, so stellt es sich heraus, daß die Budgetbewilligung überhaupt eine schöne Gegend ist und keiner besonderen Rechtfertigung bedarf.

Sich demnach jetzt noch auf den Boden der Debatten über Prinzip und

Taktik, über „außerordentliche Situationen“ und Konflikte „praktischer Interessen“ mit der starren Budgetverweigerung verlocken zu lassen wäre

vom Lübecker Parteitag eine unverzeihliche Naivität. Es hat sich nachgerade klar genug gezeigt, daß diese abstrakten Fälle und „taktischen Rücksichten“ nur Mittel sind, um in das Prinzip eine Bresche zu legen.

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