Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 57

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wenig kümmert, aus dem Rahmen der opportunistisch-radikalen Stümperei nicht heraus. Gerade in dem dominierenden Zug der bisherigen französischen Arbeiterschutzgesetzgebung, in dem dilettantischen, planlosen Experimentieren, kommt am augenscheinlichsten der Mangel an Kontakt dieser Reformtätigkeit mit einer zielsicheren und kräftigen Gewerkschaftsbewegung, mit der Praxis des alltäglichen Kampfes zum Vorschein.

Um hier Wandel zu schaffen, müßten vor allem die französischen Gewerkschaften zu einer selbständigen Aktion, zu einem kräftigen Kampfe um die Besserung der Arbeitsbedingungen auf gesetzlichem und wirtschaftlichem Wege angetrieben werden. Die Sozialreform Millerands wirkt aber nach gerade entgegengesetzter Richtung. Materiell ist sie bestrebt, den Gewerkschaften den Lebensinhalt, den ungehinderten wirtschaftlichen Kampf zu entziehen und sie aus Kampfesorganisationen zu einem Teile des künstlich erdachten Apparats für den sozialen Frieden zu verwandeln, formell macht sie obendrein die Kritik und die selbständige Angriffsaktion der Arbeiterschaft auf die offizielle Sozialpolitik unmöglich.

Die Ministerschaft Millerands bedeutet auf diese Weise, weit entfernt, eine neue Ära der Sozialreformen in Frankreich zu inaugurieren, das Aufhören des Kampfes der Arbeiterklasse um soziale Reformen, bevor er noch begonnen hatte, das heißt die Erstickung desjenigen Elements, das einzig der verknöcherten französischen Sozialpolitik ein gesundes modernes Leben einflößen könnte.

V Der Fall Millerand und die sozialistischen Parteien

In den vorhergehenden Artikeln haben wir uns ausschließlich auf den Boden der praktischen Politik gestellt und die Frage der sozialistischen Ministerschaft nur vom Standpunkt der unmittelbaren Ziele, denen sie nach Jaurès dienen sollte, untersucht.

Es hat sich gezeigt, daß man durch die Praxis auch hier wie jedesmal zu denselben Resultaten geführt wird, die sich aus der Theorie und den Prinzipien der Sozialdemokratie von vornherein ergeben. Wenn nämlich die Taktik Jaurèsʼ die praktischen Aufgaben, die sie sich stellte, verfehlt, so ist das nur ein logisches Ergebnis der Tatsache, daß sie zugleich durch die Verwandlung der sozialistischen Ministerschaft aus einer exzeptionellen Maßregel in ein normales Mittel des Kampfes der Arbeiterklasse die fundamentalen Grundsätze der Sozialdemokratie verleugnet.

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