Die Wahlergebnisse in Frankreich
[1]Leipzig, 7. Mai
Wenn irgendein Land heute in krassen Formen den inneren Verfall und die politische Verkehrtheit des bürgerlichen Parlamentarismus zu zeigen vermag, so ist es das gegenwärtige Frankreich, und wenn ein Moment alle Symptome dieses Verfalls und dieser Verkehrtheit grell beleuchtet hat, so sind es die jüngsten französischen Parlamentswahlen.
Das Hauptinteresse, das die Wahlen zu den gesetzgebenden Körperschaften eines Landes für ernste Politiker und soziale Forscher, also vor allem für das klassenbewußte Proletariat, hat, besteht offenbar darin, daß man an der Hand der Wahlergebnisse, der Zusammensetzung der gesetzgebenden Körperschaft einen Einblick in das innere politische Kräfteverhältnis des Landes zu gewinnen glaubt. Die Voraussetzung dabei ist, daß die parlamentarische Gruppierung der Volksvertreter der politischen Gruppierung der Volksschichten und diese der ökonomischen und sozialen Interessengliederung entspricht.
Aus dieser formalen Idee des Parlamentarismus entwickelt sich aber ein realer Inhalt, der sich seiner Idee gegenüber direkt auf den Kopf stellt und aus einem treuen Bilde zum verworrenen Zerrbild der sozialen und politischen Verhältnisse des Landes wird.
Liest man die Berichte über die Ergebnisse der letzten Wahlen in Frankreich, so klingen sie alle übereinstimmend in das doppelte Fazit aus: die Ministeriellen haben ihre Mehrheit aufrechterhalten, die Nationalisten sind mit ihrem Ansturm abgeschlagen worden. Bürgerliche Berichterstatter und offiziöse Telegraphenbüros, Frankreich und das Ausland – alles jubelt über die Niederlage des französischen Nationalismus und über den Sieg der Regierungspartei.
Was steckt aber hinter diesen Hieroglyphen in Wirklichkeit?
[1] Dieser Artikel ist nicht gezeichnet. Er wurde in die von Clara Zetkin und Adolf Warski herausgegebenen und von Paul Frölich bearbeiteten „Gesammelten Werke“ Rosa Luxemburgs aufgenommen.