Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 216

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II

Aber aus der führenden Stellung der Liberalen erklärt sich nicht nur der schwankende Charakter, sondern auch die schließliche Niederlage der Kampagne.

In dem bisherigen Kampfe um das allgemeine Wahlrecht, seit 1886, bediente sich die belgische Arbeiterklasse des Massenstreiks als des wirksamsten politischen Mittels. Ihm verdankte sie im Jahre 1891 die erste Kapitulation der Regierung und des Parlamentes: die Eröffnung der Verfassungsrevision; ihm verdankte sie im Jahre 1893 die zweite Kapitulation der herrschenden Partei: das allgemeine Wahlrecht mit dem Pluralvotum.

Es ist klar, daß auch diesmal nur der Druck der Arbeitermassen aufs Parlament und die Regierung ein greifbares Resultat erzwingen konnte. Wenn die Verteidigung der Klerikalen schon in den neunziger Jahren, wo es sich erst um den Anfang der Konzessionen handelte, eine verzweifelte war, so mußte sie jetzt, wo es den Rest, die parlamentarische Herrschaft selbst auszuliefern galt, aller Voraussicht nach auf Tod und Leben gehen. Mit donnernden Kammerreden war da offenbar nichts zu erreichen. Nur der höchste Druck der Massen vermochte den höchsten Widerstand der Regierung zu besiegen.

Angesichts dessen erscheint schon von vornherein das Zaudern der Sozialisten in der Proklamierung des Generalstreiks, die offenbar stille Hoffnung, zum mindesten der Wunsch, doch noch ohne den Massenstreik zu siegen, als das erste betrübende Zeichen der auf unsere Genossen abfärbenden liberalen Politik, die bekanntlich seit jeher alle Jerichomauern der Reaktion durch die Trompetenstöße der parlamentarischen Schönrednerei zu Falle zu bringen hofft.

Aber auch die Anwendung der Massenstreiks in Belgien ist in der eigenartigen politischen Lage ein ganz bestimmtes Problem. Der Streik wendet sich nämlich in seiner unmittelbaren ökonomischen Wirkung zunächst gegen die industrielle und kommerzielle Bourgeoisie und nur zum geringeren Teile gegen den eigentlichen Feind, die klerikale Partei. Die politische Wirkung des Massenstreiks im gegenwärtigen Kampfe mit den herrschenden Klerikalen kann also vor allem eine mittelbare sein, und zwar durch den Druck, den die vom Generalstreik bedrückte liberale Bourgeoisie auf die klerikale Regierung und die Parlamentsmehrheit ausübt. Ferner aber übt der Generalstreik auch unmittelbar eine politische Pression auf die Klerikalen aus, indem er ihnen als der Vorbote, als das erste

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