Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 583

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II

Seit sich die internationale Sozialdemokratie mit der Frage des Massenstreiks befaßt, ist die erste Grundlage der Erörterungen auf diesem Boden, der Ausgangspunkt geradezu aller Diskussion die Unterscheidung einerseits des gewerkschaftlichen Generalstreiks vom politischen und andrerseits der anarchistischen Auffassung des politischen Generalstreiks von der sozialdemokratischen Auffassung. Die Unterscheidung dieser Grundtypen des Massenstreiks ist nicht nur theoretisch unerläßlich, sondern historisch begründet, indem die internationale Arbeiterbewegung bereits Experimente jeder dieser Arten – mit verschiedensten Ergebnissen – gezeitigt hat. Sie durcheinanderwerfen ist theoretisch wie praktisch ungefähr dasselbe, wie wenn man in gewerkschaftlichen Dingen, wie dies z. B. bürgerliche Professoren tun, die Arbeiterkoalitionen und die Unternehmerverbände als eine und dieselbe Kategorie der „Interessenvertretungen“ identifizieren wollte. Wer den gewerkschaftlichen Generalstreik vom politischen und den anarchistischen vom sozialdemokratischen nicht unterscheiden kann, wer keinen Unterschied zwischen der Idee wirtschaftlicher Sympathiestreiks zur Unterstützung eines bestimmten einzelnen Lohnkampfes und der allgemeinen politischen Massenerhebung der Arbeiterschaft zur Erkämpfung gemeinsamer politischer Rechte erblickt, wer den belgischen Generalstreik des Jahres 1893[1] zur Erringung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts oder die heutigen Generalstreiks in Rußland von der hirnverbrannten Idee à la Bakunin-Nieuwenhuis, durch einen aus der Pistole geschossenen Generalstreik die sozialistische Ordnung einzuführen, nicht zu unterscheiden vermag, der zeigt eben, daß er von der ganzen Sache nicht das Abc versteht, und mit dem diskutiert man nicht, sondern man kann ihm höchstens raten: Lerne erst etwas. Was hören wir aber auf dem Gewerkschaftskongreß in Köln? Der Referent Bömelburg plätschert erst lang und breit über die Gemeingefährlichkeit der gewerkschaftlichen Sympathiestreiks, dann fließt er ganz unvermittelt mit der breiten Welle seiner Beredsamkeit aus dem jüngsten fatalen Streik der Flaschenarbeiter[2] in den „sozialen Generalstreik“ hinein, wobei er wahre Triumphe des Witzes über einen typischen anarchistischen Narren feiert, den er dem vor

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[1] Durch den Massenstreik von 250 000 belgischen Arbeitern im April 1893 war die Regierung gezwungen worden, das allgemeine Wahlrecht mit Pluralvotum einzuführen.

[2] Am 27. Juli 1901 wurde vom Verband der Glasarbeiter der Generalstreik für die Flaschenarbeiter proklamiert. Er erfaßte etwa 4700 Arbeiter in 20 Orten. Der Streik endete mit einer Niederlage, da am 17. September 1901 der Generalstreik durch Beschluß des Vorstandes des Glasarbeiterverbandes für beendet erklärt wurde.