Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 12

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Wenn Vollmar also hinterher seinem Votum eine für Millerand so günstige Auslegung gibt, so ist das nichts anderes als ein neues Probestück jenes bekannten Verfahrens, wonach jemand eine Resolution, die die Niederlage seiner Auffassung bedeutet, selbst unterschreibt, um sie hinterher als seinen Sieg auslegen zu können.

Was speziell die deutsche Partei betrifft – es ist aus Rücksicht auf die Genossen in Frankreich wichtig, dies festzustellen –, so haben sich in der von der „Petite République“ veröffentlichten internationalen Umfrage, ausgenommen Vollmar, alle in Deutschland tätigen alten Parteiführer: Liebknecht, Bebel, Singer, Kautsky, gegen die Ministerschaft Millerands ausgesprochen. Wer aber schließlich die Ansichten der deutschen Sozialdemokratie zum Ausdruck bringt, ob Vollmar oder die genannten vier, das wird Vollmar selbst mit Leichtigkeit feststellen können, wenn er sich an jene praktischen Fälle und deren Ausgang erinnert, wo er mit seiner Taktik den Liebknecht, Bebel, Singer, Kautsky gegenüberstand.

II Die Regierung der republikanischen Verteidigung

Der Eintritt Millerands ins Ministerium wird von Jaurès und seinem Anhang durch drei Momente begründet: durch die Notwendigkeit, die Republik zu verteidigen, durch die Möglichkeit, soziale Reformen zum Wohle der Arbeiterklasse durchzuführen, endlich durch die allgemeine Auffassung, wonach die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft zum Sozialismus ein Übergangsstadium erzeugen muß, in dem die politische Herrschaft von der Bourgeoisie und dem Proletariat gemeinsam ausgeübt wird, was äußerlich in dem Anteil der Sozialisten an der Regierung zum Ausdruck kommt.

Der Zeit nach ist der Hinweis auf die Verteidigung der Republik zuerst ins Feld geführt worden.

Die Republik ist in Gefahr! Daher war es notwendig, daß ein Sozialist zum bürgerlichen Handelsminister wurde. Die Republik ist in Gefahr! Deshalb mußte der Sozialist nach der Niedermetzelung streikender Arbeiter auf der Insel Martinique[1] und in Chalon[2] im Ministerium bleiben.

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[1] Im Februar 1900 war auf der Insel Martinique Militär gegen Landarbeiter, die wegen Lohnkürzungen streikten, eingesetzt worden. Dabei waren 9 Streikende getötet und 14 verletzt worden.

[2] Im Juni 1900 waren bei einem Streik in Chalon-sur-Saône drei Arbeiter getötet und zahlreiche andere verletzt worden, als Militär gegen die Streikenden eingesetzt wurde.