Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 13

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Die Republik ist in Gefahr! Infolgedessen mußte die Enquete über diese Metzeleien abgelehnt, die parlamentarische Untersuchung der Kolonialgreuel verworfen, das Amnestiegesetz[1] angenommen werden. Alles Tun und Lassen der Regierung, alle Abstimmungen und Stellungnahmen der Sozialisten werden durch die Rücksichten auf die bedrohte Republik und ihre Verteidigung begründet. Es ist einmal an der Zeit, unbeirrt durch das äußere Gewühl der Tageskämpfe und ihre Losungen, die Situation einer Analyse zu unterziehen und namentlich die Frage näher ins Auge zu fassen, was es eigentlich mit dieser Gefahr und mit dieser Verteidigung auf sich hat?

In den Vereinigten Staaten von Nordamerika hören wir trotz heftigster innerer Klassen- und Parteikämpfe nichts von einer Gefahr für den Bestand der republikanischen Staatsform. Es ist dies ganz selbstverständlich, weil die amerikanische Union die Republik zugleich mit der Unabhängigkeit errungen hatte und als freier Staat nie monarchisch regiert worden ist. In Frankreich erscheinen im Gegenteil die Befürchtungen um die Schicksale der Republik ebenso natürlich, weil sie bereits zweimal erkämpft worden war, um zweimal nach kurzer Dauer von der Monarchie wieder eskamotiert zu werden. Es ist also die Vergangenheit, die hier ihre Schatten auf die Gegenwart zurückwirft und die Strecke der geschichtlichen Entwicklung, die zwischen beiden liegt, den Blicken entzieht.

Sosehr die beiden Napoleonischen Staatsstreiche, der 18. Brumaire wie der 2. Dezember, mit äußeren Momenten zusammenhingen, sie kamen keineswegs wie aus der Pistole geschossen. Sowohl das Erste wie das Zweite Kaiserreich waren vor allem ein unmittelbares Ergebnis der voraufgegangenen Revolution, der äußerste Ruhepunkt in der rückläufigen Bewegung der revolutionären Welle, getragen in beiden Fällen durch zwei mächtige Klassen der bürgerlichen Gesellschaft: die Großbourgeoisie und das Bauerntum.

Im ersten Falle haben wir eine Bourgeoisie, die dem Sturmlauf der Revolution, welche über das ihr gesteckte Ziel, die Schaffung des bürgerlichen Rechtsstaats, hinausgeeilt war und die Grundlagen dieses Rechtsstaats selbst bedrohte, Einhalt tun, sie auf den Ausgangspunkt zurückführen und hier ersticken wollte. Daneben ein Bauerntum, welches sich plötzlich befreit und Grundeigentum erworben hatte und, sowohl jede

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[1] Am 19. Dezember 1900 hatte die französische Kammer ein Amnestiegesetz angenommen, wonach alle politischen Verurteilungen der letzten Jahre mit einigen Ausnahmen aufgehoben werden sollten. Außerdem sollten alle strafbaren Handlungen, die sich an die Dreyfus-Affäre knüpften, als nicht geschehen erklärt werden.