Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 435

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II

Wir haben bis jetzt die Frage des Zentralismus vom Standpunkt der allgemeinen Grundlagen der Sozialdemokratie sowie zum Teil der heutigen Verhältnisse in Rußland betrachtet. Aber der Nachtwächtergeist des von Lenin und seinen Freunden befürworteten Ultrazentralismus ist bei ihm nicht etwa ein zufälliges Produkt von Irrtümern, sondern er steht im Zusammenhang mit einer bis ins kleinste Detail der Organisationsfragen durchgeführten Gegnerschaft zum – Opportunismus.

„Es handelt sich darum“, meint Lenin (S. 52), „vermittels der Paragraphen des Organisationsstatuts eine mehr oder minder scharfe Waffe gegen den Opportunismus zu schmieden. Je tiefer die Quellen des Opportunismus liegen, um so schärfer muß diese Waffe sein.“[1]

Lenin erblickt auch in der absoluten Gewalt des Zentralkomitees und in der strengen statutarischen Umzäunung der Partei eben den wirksamen Damm gegen die opportunistische Strömung, als deren spezifische Merkmale er die angeborene Vorliebe des Akademikers für Autonomismus, für Desorganisation und seinen Abscheu vor strenger Parteidisziplin, vor jedem „Bürokratismus“ im Parteileben bezeichnet. Nur der sozialistische „Literat“, kraft der ihm angeborenen Zerfahrenheit und des Individualismus, kann sich nach Lenins Meinung gegen so unbeschränkte Machtbefugnisse des Zentralkomitees sträuben, ein echter Proletarier dagegen müsse sogar infolge seines revolutionären Klasseninstinktes ein gewisses Wonnegefühl bei all der Straffheit, Strammheit und Schneidigkeit seiner obersten Parteibehörde empfinden, er unterziehe sich all den derben Operationen der „Parteidisziplin“ mit freudig geschlossenen Augen. „Der Bürokratismus entgegen dem Demokratismus“, sagt Lenin, „das ist eben das Organisationsprinzip der revolutionären Sozialdemokratie entgegen dem Organisationsprinzip der Opportunisten.“ (S. 151.)[2] Er beruft sich mit Nachdruck

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[1] „Es handelt sich nicht darum, daß Punkte des Statuts Opportunismus erzeugen können, sondern darum, mit Hilfe dieser Punkte eine mehr oder minder scharfe Waffe gegen den Opportunismus zu schmieden. Je tiefer seine Ursachen sind, um so schärfer muß diese Waffe sein.“ (W. I. Lenin: Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück. In: Werke, Bd. 7, S. 271.)

[2] „Bürokratismus versus Demokratismus, das ist eben Zentralismus versus Autonomismus, das ist eben das organisatorische Prinzip der revolutionären Sozialdemokratie gegenüber dem organisatorischen Prinzip der Opportunisten der Sozialdemokratie.“ (Ebenda, S. 400 f.) – „Sie zitiert meine Worte, daß diese oder jene Fassung eines Organisationsstatus als ein mehr oder weniger scharfes Kampfmittel gegen den Opportunismus dienen kann. Über welche Fassungen ich in meinem Buch und wir alle auf dem Parteitag gesprochen haben, darüber sagt Rosa Luxemburg kein Wort. Welche Polemik ich auf dem Parteitag führte, gegen wen ich meine Grundsätze vorbrachte, das kümmert die Genossin überhaupt nicht. Statt dessen geruht sie, mir eine ganze Vorlesung über den Opportunismus ... in den Ländern des Parlamentarismus zu halten!! Doch über die besonderen, spezifischen Spielarten des Opportunismus, über die Nuancen, die er bei uns in Rußland angenommen hat und mit denen ich mich in meinem Buch beschäftige, darüber finden wir in dem Artikel der Genossin kein Wort.“ (W. I. Lenin: Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück. Eine Antwort N. Lenins an Rosa Luxemburg. In: Werke. Bd. 7, S. 484.)