Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 434

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schöpferischen, sondern vom sterilen Nachtwächtergeist getragen zu sein. Sein Gedankengang ist hauptsächlich auf die Kontrolle der Parteitätigkeit und nicht auf ihre Befruchtung, auf die Einengung und nicht auf die Entfaltung, auf die Schurigelung und nicht auf die Zusammenziehung der Bewegung zugeschnitten.

Doppelt gewagt scheint ein solches Experiment gerade im gegebenen Moment für die russische Sozialdemokratie zu sein. Sie steht am Vorabend großer revolutionärer Kämpfe um die Niederwerfung des Absolutismus, vor oder vielmehr in einer Periode intensivster, schöpferischer Aktivität auf dem Gebiet der Taktik und – was in revolutionären Epochen selbstverständlich ist – fieberhafter sprungweiser Erweiterungen und Verschiebungen ihrer Einflußsphäre. In solchen Zeiten gerade der Initiative des Parteigeistes Fußangeln anlegen und ihre ruckweise Expansionsfähigkeit mit Stacheldrahtzaun eindämmen zu wollen hieße die Sozialdemokratie von vornherein für die großen Aufgaben des Moments in hohem Maße ungeeignet machen.

Aus den angeführten allgemeinen Erwägungen über den eigentümlichen Inhalt des sozialdemokratischen Zentralismus läßt sich freilich noch nicht die konkrete Fassung der Paragraphen des Organisationsstatuts für die russische Partei ableiten. Diese Fassung hängt naturgemäß in letzter Instanz von den konkreten Umständen ab, unter denen sich die Tätigkeit in der gegebenen Periode vollzieht, und kann – da es sich in Rußland doch um den ersten Versuch einer großen proletarischen Parteiorganisation handelt – kaum im voraus auf Unfehlbarkeit Anspruch erheben, muß vielmehr auf jeden Fall erst die Feuerprobe des praktischen Lebens bestehen. Was sich aber aus der allgemeinen Auffassung des sozialdemokratischen Organisationstypus ableiten läßt, das sind die großen Grundzüge, das ist der Geist der Organisation, und dieser bedingt, namentlich in den Anfängen der Massenbewegung, hauptsächlich den koordinierenden, zusammenfassenden und nicht den reglementierenden und exklusiven Charakter des sozialdemokratischen Zentralismus. Hat aber dieser Geist der politischen Bewegungsfreiheit, gepaart mit scharfem Blicke für die prinzipielle Festigkeit der Bewegung und für ihre Einheitlichkeit, in den Reihen der Partei Platz gegriffen, dann werden die Schroffheiten eines jeden, auch eines ungeschickt gefaßten Organisationsstatuts sehr bald durch die Praxis selbst eine wirksame Korrektur erfahren. Es ist nicht der Wortlaut des Statuts, sondern der von den tätigen Kämpfern in diesen Wortlaut hineingelegte Sinn und Geist, der über den Wert einer Organisationsform entscheidet.

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