Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 433

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zuarbeiten und es bald in ein Bollwerk gegen eine weitere Neuerung größeren Stiles umzukehren. Die gegenwärtige Taktik der deutschen Sozialdemokratie wird zum Beispiel allgemein wegen ihrer merkwürdigen Vielgestaltigkeit, Biegsamkeit und zugleich Sicherheit bewundert. Das bedeutet aber nur, daß unsere Partei sich in ihrem Tageskampf wunderbar an den gegenwärtigen parlamentarischen Boden bis ins kleinste Detail angepaßt hat, daß sie das gesamte vom Parlamentarismus gebotene Kampfesterrain auszubeuten und den Grundsätzen entsprechend zu beherrschen versteht. Zugleich aber verdeckt bereits diese spezifische Gestaltung der Taktik so sehr die weiteren Horizonte, daß in hohem Maße die Neigung zur Verewigung und zur Betrachtung der parlamentarischen Taktik als der Taktik des sozialdemokratischen Kampfes schlechthin hervortritt. Bezeichnend für diese Stimmung ist zum Beispiel die Vergeblichkeit, mit der Parvus sich seit Jahren Mühe gibt, die Debatte über eine eventuelle Neugestaltung der Taktik für den Fall der Abschaffung des allgemeinen Wahlrechtes in der Parteipresse in Fluß zu bringen, trotzdem eine solche Eventualität von den Führern der Partei durchaus mit bitterem Ernste ins Auge gefaßt wird. Diese Trägheit findet aber zum großen Teile ihre Erklärung darin, daß sich auch schwer in der leeren Luft der abstrakten Spekulation die Konturen und greifbaren Formen einer noch nicht existierenden, also imaginären politischen Situation darstellen lassen. Wichtig ist auch für die Sozialdemokratie jedesmal nicht das Vorausahnen und Vorauskonstruieren eines fertigen Rezeptes für die künftige Taktik, sondern die lebendige Erhaltung in der Partei der richtigen historischen Wertschätzung für die jeweilig herrschenden Kampfformen, das lebendige Gefühl für die Relativität der gegebenen Phase des Kampfes und für die notwendige Steigerung der revolutionären Momente vom Standpunkt des Endziels des proletarischen Klassenkampfes.

Es hieße aber den aus ihrem Wesen notwendigerweise entspringenden Konservatismus jeder Parteileitung gerade künstlich in gefährlichstem Maße potenzieren, wenn man sie mit so absoluten Machtbefugnissen negativen Charakters ausstatten wollte, wie es Lenin tut. Wird die sozialdemokratische Taktik nicht von einem Zentralkomitee, sondern von der Gesamtpartei, noch richtiger, von der Gesamtbewegung geschaffen, so ist für einzelne Organisationen der Partei offenbar diejenige Ellenbogenfreiheit nötig, die allein die völlige Ausnutzung aller von der jeweiligen Situation gebotenen Mittel zur Potenzierung des Kampfes sowie die Entfaltung der revolutionären Initiative ermöglicht. Der von Lenin befürwortete Ultrazentralismus scheint uns aber in seinem ganzen Wesen nicht vom positiven

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