Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 432

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-1-2/seite/432

land, die mit dem elementaren Ausbruch des Petersburger Riesenstreiks im Jahre 1896[1] einsetzte und die zuerst die ökonomische Massenaktion des russischen Proletariats inauguriert hatte. Desgleichen war die zweite Phase – die der politischen Straßendemonstrationen – ganz spontan durch die Petersburger Studentenunruhen im März 1901[2] eröffnet. Der weitere bedeutende Wendepunkt der Taktik, der ihr neue Horizonte zeigte, war der „von selbst“ ausgebrochene Massenstreik in Rostow am Don[3] mit seiner ad hoc improvisierten Straßenagitation, den Volksversammlungen unter freiem Himmel, den öffentlichen Ansprachen, woran der kühnste Stürmer unter den Sozialdemokraten noch wenige Jahre zuvor als an eine Phantasterei nicht zu denken gewagt hätte. In allen diesen Fällen war im Anfang „die Tat“. Die Initiative und die bewußte Leitung der sozialdemokratischen Organisationen spielten eine äußerst geringe Rolle. Es lag dies jedoch nicht sowohl an der mangelhaften Vorbereitung dieser speziellen Organisationen für ihre Rolle – wenn dieses Moment in beträchtlichem Maße auch mitgewirkt haben mag – und erst recht nicht am Fehlen dazumal in der russischen Sozialdemokratie einer allmächtigen Zentralgewalt nach dem bei Lenin entwickelten Plane. Umgekehrt, eine solche hätte höchstwahrscheinlich nur dahin gewirkt, die Unschlüssigkeit der Einzelkomitees der Partei noch größer zu machen und eine Entzweiung zwischen der stürmenden Masse und der zaudernden Sozialdemokratie hervorzubringen. Dieselbe Erscheinung: die geringe Rolle der bewußten Initiative der Parteileitungen bei der Gestaltung der Taktik, läßt sich vielmehr auch in Deutschland und überall beobachten. Die Kampftaktik der Sozialdemokratie wird in ihren Hauptzügen überhaupt nicht „erfunden“, sondern sie ist das Ergebnis einer fortlaufenden Reihe großer schöpferischer Akte des experimentierenden, oft elementaren Klassenkampfes. Auch hier geht das Unbewußte vor dem Bewußten, die Logik des objektiven historischen Prozesses vor der subjektiven Logik seiner Träger. Die Rolle der sozialdemokratischen Leitung ist dabei wesentlich konservativen Charakters, indem sie erfahrungsgemäß dazu führt, das jedesmalige neugewonnene Terrain des Kampfes bis in die äußersten Konsequenzen aus-

Nächste Seite »



[1] Unter Führung des Kampfbundes zur Befreiung der Arbeiterklasse hatten im Sommer 1896 etwa 30 000 Textilarbeiter in Petersburg gestreikt. Sie forderten Bezahlung des Arbeitsausfalls an den Krönungsfeiertagen und Verkürzung der Arbeitszeit. Um die Ausweitung des Streiks zu einem Generalstreik zu verhindern, wurden die Forderungen der Arbeiter teilweise erfüllt und der Streik nach drei Wochen beendet.

[2] Am 4. März 1901 hatte in Petersburg eine große Arbeiter- und Studentendemonstration gegen die reaktionäre Studentenpolitik der zaristischen Regierung stattgefunden. Polizei und Militär waren brutal gegen die Demonstranten vorgegangen.

[3] Im November 1902 hatte in Rostow am Don in den Eisenbahnwerken ein Streik begonnen, der bald alle Betriebe der Stadt erfaßte. Aus diesem ökonomischen Streik entwickelte sich die bis dahin größte politische Massenaktion, bei der das Proletariat „sich zum ersten Male als Klasse allen anderen Klassen und der Zarenregierung“ gegenüberstellte (Lenin). Diese Aktion trug wesentlich zum weiteren Aufschwung der Arbeiterbewegung in Rußland bei.