Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 122

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gewährt und bloß in Ausnahmefällen verweigert, indem man somit das ständige Mißtrauensvotum gegen den Klassenstaat in ein zufälliges Mißtrauensvotum gegen ein spezielles Ministerium verwandelt, stellt man sich grundsätzlich auf den Boden des existierenden Staates und bekämpft bloß manche seiner Einzelerscheinungen, seine „Unvollkommenheiten“. Es ist dies der regelrechte Standpunkt des hochseligen deutschen Fortschritts, des heutigen Freisinns, der englischen Liberalen, kurz – der bürgerlichen Opposition in allen ihren Abarten.

II

Wie in der allgemeinen Fragestellung, bestätigt sich der bürgerliche Standpunkt in allen Einzelheiten der badischen Beweisführung.

Fendrich und seine Genossen argumentieren folgendermaßen: Von dem Gesamtetat Badens haben wir in Einzelabstimmungen bloß ein Sechsundzwanzigstel verweigert, wie geht es nun an, daß wir in der Gesamtabstimmung, wegen diesem lumpigen Sechsundzwanzigstel, wegen elender 18 Millionen Mark, alles ablehnen?

Vom bürgerlichen Standpunkt ist dies ein tadelloses Räsonnement.

Wo man in der Hauptsache mit der Regierung ein Herz und eine Seele ist und nur wegen kleiner Verschiebungen im Mechanismus scharmützelt, da läuft die ganze Parlamentspolitik auf ein einfaches Rechenexempel, auf ein Addieren und Subtrahieren, hinaus. Ein paar Millionen hier abgezwackt, ein paar dort zugelegt, ein paar andere gestrichen – und die Gegner sind quitt Man hat aber in Baden offenbar vergessen, daß die Sozialdemokratie in der ganzen Geschichte, also auch in den bewilligten fünfundzwanzig Sechsundzwanzigsteln des Etats, ein Haar finden dürfte, und dieses wäre der Umstand, daß wir in der kapitalistischen Gesellschaft und im Klassenstaat leben.

Wenn wir nämlich auch ohne weiteres zugeben, daß der heutige Staat wie jede andere geschichtliche Organisation der Gesellschaft bestimmte gemeinnützige Funktionen ausführt, so verlieren wir doch nicht aus dem Auge, daß die Art und Weise, wie er sich dieser Funktionen entledigt, in allem das Gepräge der bürgerlichen Klassenherrschaft trägt. Wir sind selbstverständlich für die Entwicklung des Verkehrswesens, aber nicht für die Eisenbahnpolitik des kapitalistischen Staates. Wir sind für die Hebung des Volksunterrichts, aber nicht für seine heutigen Formen. Wir wünschen öffentliche Ordnung und Ruhe, aber verdammen die heutige vom Geiste

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