Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 556

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man sich immer wieder das Wesen und den Inhalt dieses Kampfes, seine gesamten Ziele und seine gegenwärtigen Aufgaben vergegenwärtigt und bewußt macht.

I

Die gegenwärtige Revolution in unserem Lande sowie im ganzen Herrschaftsbereich des Zarismus hat einen Doppelcharakter. Ihren unmittelbaren Zielen nach ist sie eine bürgerliche Revolution. Es handelt sich, um die Einführung der politischen Freiheit im zaristischen Staat, der Republik und der parlamentarischen Ordnung, die bei der Herrschaft des Kapitals und der Lohnarbeit nichts anderes ist als eine fortschrittliche Form des bürgerlichen Staates, als eine Form der Klassenherrschaft der Bourgeoisie über das Proletariat.

Aber in Rußland und Polen wird diese bürgerliche Revolution nicht von der Bourgeoisie gemacht, wie einst in Deutschland und Frankreich, sondern .von der Arbeiterklasse, und das von einer Arbeiterklasse, die sich ihrer Arbeiterinteressen schon in hohem Maße bewußt ist, einer Arbeiterklasse, die die politischen Freiheiten nicht für die Bourgeoisie erobert, sondern im Gegenteil mit dem Ziel, sich selbst den Klassenkampf gegen die Bourgeoisie zu erleichtern, mit dem Ziel, den Sieg des Sozialismus zu beschleunigen. Darum ist die gegenwärtige Revolution gleichzeitig eine Arbeiterrevolution. Deshalb muß in dieser Revolution der Kampf gegen den Absolutismus Hand in Hand mit dem Kampf gegen das Kapital, gegen die Ausbeutung gehen. Und infolgedessen sind die ökonomischen Streiks in dieser Revolution von vornherein von dem politischen Streik nicht zu trennen.

Das paßt den bürgerlichen Klassen natürlich nicht. Unsere Kapitalisten wären zwar gern bereit, die Freiheit und die Bürgerrechte an sich zu raffen, falls sie das nichts kostet und das Proletariat alle Opfer dafür bringt. Aber Hände weg von ihrem Sack! Im Geiste der Interessen des ausbeutenden Kapitals mahnt auch die sogenannte Nationale Demokratie[1] die Arbeiter – z. B. in dem kürzlich im Kohlenbecken Dabrowa herausgegebenen Aufruf des Nationalen Arbeiterkomitees – zur „Umsicht bei

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[1] Im Juni 1897 war die National-Demokratische Partei (Endecja) als Interessenvertreterin der Großbourgeoisie und von Teilen der Großgrundbesitzer und des Kleinbürgertums gegründet worden. Sie vertrat nationalistische und antisemitische Auffassungen. In ihrem politischen Programm lehnte sie revolutionäre Veränderungen in der Gesellschaft ab und trat für die Angleichung der Klassen ein. Ihre Hauptvertreter waren Roman Dmowski und Zygmunt Balicki.