Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 324

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III

Das oben angeführte Dokument, der Aufruf an die russischen Genossen, zeigt uns, daß die polnischen Sozialisten gegen Ende des Jahres 1881 zu einem sozialdemokratischen Standpunkt in zwei entscheidenden Punkten gelangten: erstens in dem allgemeinen Grundsatz, daß das politische Programm des polnischen Proletariats mit dem des Proletariats der Staaten der Besatzungsmächte gleich und gemeinsam sein müsse, zweitens, daß in dem russischen Teilungsgebiet dieses Programm der Sturz der Selbstherrschaft und der Kampf um politische Freiheiten, das heißt um parlamentarisch-demokratische Regierungsformen sein müßte. Diese beiden vollkommen übereinstimmenden und sich logisch ergänzenden Schlußfolgerungen gerieten jedoch in Widerspruch zueinander, als die polnischen Sozialisten versuchten, sie in der Praxis anzuwenden. Das allgemeine sozialistische Prinzip führte sie zur Gemeinsamkeit von Programm und Aktion mit den russischen Sozialisten. Aber der damalige russische Sozialismus war keine Sozialdemokratie. Die Waryński-Gruppe stellte zwar den Kampf um die Verfassung als gemeinsames Programm auf, aber dieses Programm war in Wirklichkeit nicht das Programm der „Narodnaja Wolja“. Die polnischen Sozialisten erklärten den Kampf gegen den Zarismus nur dann für wirksam, wenn er von den organisierten Arbeitermassen geführt werden wird, aber die russischen Sozialisten betrieben damals keine Massenagitation und stützten sich weder in ihrer Theorie noch in der Praxis auf die Arbeiterklasse. Die „Narodnaja Wolja“ kämpfte in Wirklichkeit nicht „um die Erweiterung der politischen Rechte des Proletariats“ zwecks „Ermöglichung von Massenorganisationen zum Kampf gegen die Bourgeoisie“, wie Waryński den Inhalt der politischen Programme im Geiste der Sozialdemokratie formuliert hatte. Vielmehr kämpfte die „Narodnaja Wolja“ um „sachwat wlasti“, um die Machtergreifung mit dem Ziel, sofort Reformen mit Übergangscharakter im Sinne des sozialistischen Umsturzes durchzuführen, ohne sich auf die Aktion klassenbewußter Massen, auf die Organisation und den Kampf des Industrieproletariats zu stützen, sondern auf die verschwörerischen Handlungen einer „entschlossenen Minderheit“.

Deshalb mußten die in die Praxis übertragenen richtunggebenden Grundsätze Waryńskis und seiner Genossen untereinander in Widerspruch geraten.

Hätte damals in Rußland die sozialistische Bewegung auf sozialdemokratischem Boden gestanden, wie das mit Ausnahme weniger Organisationen heute der Fall ist, so hätten die Grundsätze der Begründer des „Pro-

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