Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 523

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Der Bittgang des Proletariats

Nichts ist so geeignet, unser Denken nach allen Richtungen hin mit einem Schlage von den beengenden Fesseln der Schablone zu befreien, wie eine revolutionäre Periode. Die wirkliche Geschichte ist, wie die schaffende Natur, viel bizarrer und reicher in ihren Einfällen als der klassifizierende und systematisierende Pedant.

Als die erste Kunde von dem Bittgang der Petersburger Arbeiterschaft an den Zaren[1] nach dem Ausland kam, da erweckte sie allgemein sehr gemischte und zweifellos bedrückte Gefühle. Ein seltsam Bild primitiver Naivität mit einem tragisch-großen Zuge zugleich, umflort von mystischem, fremdem und befremdendem Schleier, bot sich da dem realistischen Auge des nüchternen Europäers, der über die verhängnisvolle Verblendung eines ganzen Volkes bedauernd den Kopf schüttelte. Erst das Auffahren der Kanonen auf dem Ostrow-Wassilewski, erst der buchstäblich „blutige“ Ernst, mit dem der seltsame Pilgerzug vom Zarismus aufgenommen wurde, hat uns an Paris, an die Barrikaden, an ganz moderne westeuropäische Reminiszenzen gemahnt. Und vollends waren wir beruhigt, daß es sich nicht um eine orientalische Karawane, sondern um eine moderne proletarische Revolution handelte, als wir vernahmen, daß in allen anderen Städten Rußlands die Erhebung die landläufige Form des Generalstreiks, dazu mit massenhafter Verbreitung sozialdemokratischer Flugblätter, annahm. Bei aller Hochachtung für die besagten Flugblätter wäre es jedoch ein verhängnisvoller Irrtum, wollten wir uni einbilden, daß erst durch sie das revolutionäre Moment in die Bewegung hineingetragen wurde. Auch in der russischen Revolution, die soeben von uns erlebt wird, ist es der Sozialdemokratie als Aufgabe zugefallen, die revolutionäre Seite der pro-

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[1] Siehe S. 479, Fußnote 1.