Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 524

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letarischen Erhebung bloß zu formulieren, zum klaren Ausdruck zu bringen, sie aus den Schalen einer elementaren Eruption zu befreien. Der revolutionäre Kern steckte in den Ereignissen von vornherein – so gut in den mit Windeseile verbreiteten Generalstreiks wie in dem Bittgang des Petersburger Proletariats selbst.

Die Illusion, daß an den politischen Mißständen im Lande eigentlich ein „Missverständnis“ zwischen dem Monarchen und dem Volke schuldig sei, das durch ein systematisches Intrigenspiel der „Berater“ der Krone und der ganzen Hofkamarilla geschürt und erhalten werde, die sich zwischen das Volk und den irregeleiteten Fürsten schieben, diese Illusion braucht gar nicht als ein exotisches Gewächs der eigentümlichen Verhältnisse Rußlands und seines mystischen Halbdunkels betrachtet zu werden. Wir in Deutschland haben es ganz speziell nicht nötig, weit in der Welt herumzustreifen, um ein analoges Beispiel zu finden. Ist es doch ein altes und ewig neues Requisitenstück aus dem politischen Weisheitsschatz des deutschen Liberalismus, daß er sich und anderen periodisch einredet, die ganze preußisch-deutsche Misere rühre hauptsächlich daher, daß der deutsche Kaiser von seinen Beratern „schlecht informiert“ sei und ihm die Möglichkeit genommen werde, sich mit dem Volke in inniger Fühlung zu verständigen. Daß mit dem „Volke“ in diesem Falle niemand anderer als die freisinnigen Mannen selbst mit ihren vielen Schmerzen über nicht zu den Amtern zugelassene jüdische Richter und dergleichen Grundübel der sozialen Ordnung gemeint sind, ändert nichts an der tiefsinnigen Idee.

Nun liegt aber ein gewaltiger Unterschied zwischen dem politischen Werte einer solchen Illusion in den Köpfen eines verfallenden liberalen Bürgertums und einer aufstrebenden modernen Arbeiterklasse. Die Theorie vom „irregeleiteten Fürsten“ ist ein vollkommen adäquater politischer Ausdruck derjenigen politischen Aspirationen, die in der Brust des heutigen deutschen Freisinns wohnen. Das bittende Winseln vor dem Throne als Mittel und das altweibische Gemäkel an den kleinen Schönheitsfehlern der besten der Welten, in der wir leben, als Zweck der liberalen Politik geben zusammen eine vollkommene Harmonie, ein absolutes Gleichgewicht ab, das der genannten Politik hundert Jahre ungestörten Daseins stets mit demselben Erfolg sichert und dem Liberalismus gestattet, immer hoffnungsvoll hinaufzublicken und ewig des himmlischen Taus der kaiserlichen Gnade zu harren, sich indes vom Antlitz jedwedes andere Naß geduldig wischend, das von oben kommt.

Hingegen liegt zwischen der Mythe vom „guten Fürsten“ und den historischen Bestrebungen, den Klasseninteressen des modernen Proletariats

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