Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.2, 7., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2000, S. 177

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daß keine Wahrheit ohne Schönheit auskommen kann und daß der antike Genius für unsere Nation und unsere Rasse eine Quelle von Schönheit ist. Die soziale Revolution wird edler, menschlicher, kultureller in einem Lande sein, dem nicht die Gewohnheit gewisser Wege und gewisser Gipfel abhanden gekommen ist.“

Das Fiasko der Einigkeit in den Reihen der Jaurèsisten bedeutet noch in einer anderen Beziehung den Abschluß für die „neue Methode“. Es gehört zum Wesen dieser Auffassung des Sozialismus, daß sie jeweilig den ganzen Kampf auf einen praktischen Punkt konzentriert, die öffentliche Meinung jeweilig durch irgendeinen naheliegenden Zielpunkt in Atem hält. Jaurès basierte anfänglich die gesamte sozialistische Tätigkeit auf die Dreyfus-Affäre. Als diese im Amnestiegesetz erstickt worden war, konzentrierte er alle Blicke und alle Kräfte auf die „Rettung der Republik“. Sobald diese anfing, in seinen eigenen Reihen zu enttäuschen, betäubte er alle Zweifel, indem er die Blicke auf einen neuen Punkt richtete: auf die sozialistische Einigkeit. Der Verwirklichung der Einigkeit sollten vorläufig alle Bedenken, alle Kontroversen untergeordnet werden. Die sozialistische „Einigkeit“ war aber auch die letzte Karte, auf die Jaurès alles gestellt hat. Heute, wo auch diese ausgespielt und verspielt ist, während zugleich der letzte Schein der politischen Krise durch die Programmlosigkeit der Regierung abgestreift wird, hat die Politik Jaurès’ keinen einzigen Trumpf mehr in der Hand. Und für eine stets nur mit Augenblickstrümpfen spielende Methode bedeutet dies das Ende vom Liede.

III

Damit wären die Akten über den ministeriellen Sozialismus geschlossen. Von Niederlage zu Niederlage schreitend, hat er nach und nach das Fiasko der „republikanischen Verteidigung“, der Sozialreform, der Sammlungspolitik und endlich der sozialistischen Einigkeit erlebt. Statt der versprochenen Stärkung der „politischen und wirtschaftlichen Macht“ der Arbeiterklasse hat er nur politische Schwächung und Desorganisation herbeigeführt. Und auch die moralische Degradation obendrein.

In der panamistischen[1] Republik, die an der politischen Korruption aller bürgerlichen Parteien förmlich zugrunde geht, war die sozialistische Arbeiterpartei mehr noch als in jedem anderen Lande zu einer besonderen Aufgabe der Sanierung des öffentlichen Lebens, der Reinigung der politischen

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[1] 1892 war im Zusammenhang mit dem Ruin der französischen Panamagesellschaft von 1888/89 eine parlamentarische Bestechungsaffäre aufgedeckt worden, durch die eine große Anzahl führender Politiker belastet wurde. Tausende von Kleinaktienbesitzern, die zur Finanzierung des Baus des Panamakanals aufgerufen worden waren, wurden um ihre Ersparnisse gebracht.